Sturmauge
interessierte sich der junge Harol mit einem Mal für das Protokoll und für Etikette, als müsse er sofort zum Hausherrn werden. Er hatte angefangen, im Beisein von Gästen ein seltsam formelles Gehabe an den Tag zu legen.
Gian nickte. »Aber er wollte die Harlekin-Vereinbarung nicht schließen und nur Brot und Wasser annehmen.«
»Warum?«
Sie seufzte schwer. »Ich weiß es nicht. Er sagte, er würde keine
weiteren Bünde schließen, bis er seine Unschuld wiedergefunden habe. Was kann er denn damit gemeint haben?«
Harol gab einen geringschätzigen Laut von sich und streckte dem Harlekin die Zunge heraus. Seine Gestalt war zwar ebenso schlank und geschlechtslos wie die eines Harlekins, aber sein Gesicht zeigte stets seine Gefühle, wenn er sich nicht ermahnte, ernst und erwachsen zu sein.
Seine Wangen waren vom Wein und der Aufregung des Tages gerötet. In Tor Milist hatte man in der letzten Dekade selten gefeiert. Sogar das Ende des langwierigen Bürgerkrieges war nur von Unsicherheit und Nervosität begleitet gewesen. Sie kannten Herzog Vrerrs Launen und Vorgehen viel zu gut, um Freudenrufe auszustoßen.
»Hört mir gut zu, denn ich bin der Bewahrer der Vergangenheit«, sagte der Harlekin plötzlich mit lauter Stimme, immer noch mit dem Rücken zum Raum.
Die Stimmen verstummten fast sofort. Sogar die kleineren Kinder bemerkten den Stimmungswechsel und stellten ihr lautes Spiel ein. Einige krabbelten zu ihren Eltern und setzten sich zu deren Füßen hin. Alle sahen den Sprecher an.
Mit einem Mal wandte sich der Harlekin dem Raum zu. Gian ballte die Fäuste, als die Maske die Anwesenden musterte, wobei die blutige Träne auf der Wange erschreckend hell leuchtete. Eines der kleineren Kinder wimmerte bei dem Anblick auf, aber die anderen waren wie gebannt.
»In den Jahren, als die Götter noch im ganzen Land unangefochten waren, wurde in der Stadt Aineer ein Yeetatchen-Mädchen mit dem Namen Jerrath geboren. Aineer ist in diesen Jahren eine fromme Stadt gewesen, die mit ihrem Schicksal zufrieden war, und hatte nichts mit der Stadt gemein, zu der sie dann werden sollte … der Stadt, die Lliot, der Gott der Meere, zerstörte, um das Verhalten ihrer Einwohner zu strafen.«
Ein Murmeln erklang. Gian sah, wie sich plötzlich einer ihrer Freunde versteifte und ernst wurde. Die Gerüchte hatten sich durch die plötzliche Veränderung der Priesterschaft noch verschlimmert. Man erzählte sich, Scree sei von den Göttern zerstört worden, von einer Feuersbrunst verzehrt, während Tod aus den Wolken herabgesehen und sein Lachen wie Donner geklungen habe.
Sie runzelte die Stirn, als sich eine schwere Stille ihrer Gäste bemächtigte. Warum erinnert er die Leute daran? Warum muss er Ärger und Abscheu schüren? , fragte sie sich. Tor Milist war bisher weitgehend von Gewalttaten verschont geblieben, aber Berichte über Scharmützel, religiös bedingte Hinrichtungen und willkürliche Bestrafungen erreichten die Stadt aus allen Himmelsrichtungen.
»Jerrath war eine Tochter ohne Fehl«, fuhr der Harlekin fort. »Erfüllte ihre Pflichten gern und war bescheiden. Schon in jungen Jahren besuchte sie an jedem Morgen alle großen Tempel der Stadt.«
Die Stimme des Harlekins war stark und rein, wurde von der dünnen Porzellanmaske, die er trug, nicht gedämpft. Er stand reglos da, die Hände vor dem Körper gefaltet. »Die stets höfliche Jerrath wurde auf der morgendlichen Straße von allen gegrüßt. Mit den Jahren kannte schließlich ein jeder in Aineer ihr Gesicht und mochte sie. Als sie jedoch langsam zur Frau wurde, blieben die Eheangebote reicher Männer trotz ihrer Schönheit aus. Allen war bewusst, dass Jerrath für ein irdisches Leben zu gut war und dass es ihr Schicksal blieb, der Priesterschaft beizutreten.«
Die Stimme des Harlekins wurde sanfter. »Am Morgen eines Gebetstages begegnete der Hohepriester des Nartis seinem Gegenstück in den Diensten Tsatachs, und sie kamen miteinander ins Gespräch. Beide wirkten sehr zufrieden und wollten jeweils vom anderen wissen, warum er so glücklich war. Die Antwort,
die der Diener des nächtlichen Jägers gab, wurde vom anderen rasch wiederholt: ›In einer Woche ist Jerrath alt genug, um in die Dienste meines Tempels einzutreten.‹<
Die Priester sahen sich erstaunt an, dann erkannten sie, dass Jerrath, die ihnen als fromme und untertänige Dienerin ihres Gottes bekannt war, ebenso hingebungsvoll allen Göttern Aineers diente. Sie riefen alle oberen Priester der Stadt
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