Sturmauge
unerwarteten Gast an. Gian Intiss herrschte über den Haushalt ihres verstorbenen Mannes wie eine Herzogin, aber nicht einmal Stolz und Entschlossenheit reichten aus, um alles beisammenzuhalten. Der Bürgerkrieg hatte seine Zeichen auf jedem Gebäude hinterlassen, so wie er die Familien im Innersten getroffen hatte. Egal, wohin Gian den Blick auch wandte, sie wurde an ihre dahinschwindenden Reichtümer erinnert: die abblätternde Farbe, die krummen Bodendielen, die beschädigte Kutsche im Hof. Sogar wenn sie die Augen schloss, umgab es sie: das ferne Klappern eines Schlagladens im Wind, dessen Riegel zerbrochen war, ein Windstoß, der durch ein zerschlagenes Fenster wehte …
Die alltäglichen Kosten lagen ihr schwer im Magen, doch obwohl die Bücher nur schlechte Nachrichten für sie bereithielten, hatte sie keine Wahl. Harols Geburtstag stellte seinen Eintritt ins Erwachsenenalter dar, und darum schien eine Feier vonnöten, die dem Erstgeborenen eines Händlers angemessen war. Gab es sie nicht, so würden ihre Gegner und Gläubiger anfangen, Fragen zu stellen, auf die sie keine Antwort hatte.
Sie stand an der Küchentür und hörte kaum den Lärm der Vorbereitungen, der hinter ihr erzeugt wurde, während sie den
Saal musterte, der das Herz des Hauses darstellte. Weiße Trauertücher hingen noch immer von den Balken und an den drei anderen Türen. Aller Schmuck, den sie hinzugefügt hatten, verblasste dagegen zur Nichtigkeit.
In dem Saal hielten sich im Augenblick mehr als fünfzig Leute auf. Die Erwachsenen standen in Gruppen zu viert oder fünft beisammen, und die Kinder rannten freudig quiekend umher. Eine Amme saß neben einem Laufstall, in dem sich ein halbes Dutzend Kleinkinder befand, die Harols altes Holzspielzeug aneinanderschlugen und sich über den Radau freuten.
Am anderen Ende des Saals stand eine schlanke Gestalt mit dem Rücken zu ihr völlig reglos da und starrte, soweit man das sagen konnte, ins Leere. Der Lärm im Raum berührte sie nicht, als sei sie ein Geist aus einer anderen Zeit und von einem anderen Ort. Der Harlekin hatte bei seiner Ankunft, bei der er verkündet hatte, er wolle ihre Gäste unterhalten, nur das Bärenfell und seinen Rucksack abgelegt. Er trug noch immer je ein Langschwert auf jeder Seite. Das Wams und die Hose bestanden aus bunten rautenförmigen Stoffstücken, jedes einzelne nicht größer als ihr Mittelfinger. Die Beine steckten in braunen Stiefeln, eine weiße Porzellanmaske verdeckte das Gesicht. Das Haar, das dahinter sichtbar war, wirkte so dunkel, dass es beinahe schon schwarz erschien, und dazu so lang, dass der Harlekin es sich in den Kragen stecken konnte.
Gian erschauderte. Sie wusste, dass sie über seine Anwesenheit glücklich sein und den Göttern dafür danken sollte, denn sie erweckte den Anschein bestehenden Reichtums. Aber etwas an seiner Art machte sie doch nervös.
»Du hast schon wieder diesen Gesichtsausdruck«, sagte jemand hinter ihr. Harol legte ihr den Arm um die Taille und küsste seine Mutter auf die Wange. »Du machst dir Sorgen.«
»Es fühlt sich an, als machte ich mir in letzter Zeit immer über
irgendetwas Sorgen«, sagte sie mit einem Seufzen und drückte ihren Sohn fest an sich. »Aber wenn ich es nicht tue, wer dann?«
Sie hatten sich immer schon nahegestanden, und Gian hatte nie verstanden, warum Vater und Sohn so wenige Gemeinsamkeiten gefunden hatten. Sie und ihr bärengleicher Ehemann waren sich so nah gewesen, wie es nur möglich war, und sie vergötterte ihren Sohn. Aber irgendetwas hatte die beiden auch immer voneinander ferngehalten.
»Du solltest etwas essen«, sagte Harol und wies auf die Platten mit Essen, die auf der langen Eichentafel aufgetischt worden waren. Er trug seine neue fl iederfarbene Tunika und Gian bemerkte, dass die bewusst gewählten dicken Ärmel seine dünnen, jungenhaften Arme nicht verschleiern konnten. »Versuch das Honigschwein, es ist köstlich.«
»Du bist es, der hier noch zulegen muss«, antwortete sie und schenkte ihm ein mattes Lächeln, während sie seinen Bauch tätschelte. »Das Letzte, was ich brauche, ist noch mehr zu essen. Einen dickeren Bauch und Sorgenfalten, das ist alles, was ich von dieser Feier zurückbehalte.«
»Warum sorgst du dich?«
»Dieser Harlekin«, setzte sie an, verstummte dann aber. »Ich weiß nicht, es ist nur …«
»Harlekine sind immer ein wenig seltsam, oder? Du hast ihm doch Fleisch und Wein angeboten, als er eintraf?«
Seit dem Tod seines Vaters
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