Sturmauge
würde, solange Armut herrschte. Eine nicht öffentliche, aber allgemein bekannte Vereinbarung hatte sich als billiger und für alle Beteiligten einfacher erwiesen.
Legana zupfte mit sichtlicher Not an seinem Arm, da blieb er stehen.
In der Mitte der Kreuzung stand eine Statue, die vermutlich einen Gott oder einen Aspekt darstellte, weil die Arme und der Kopf abgebrochen worden waren und man sie auf einer Seite mit Schmutz beschmiert hatte. Aber darum war er jetzt nicht stehen geblieben.
»Die Sonne geht unter«, erklärte er. »Ich weiß nicht genau, wie weit es bis zum Beristole ist, aber ich weiß doch, dass sich die Byoranische Wache dort nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr hintraut.«
Sie vergewisserte sich, dass ihr Dolch im langen Ärmel ihrer Robe steckte, dann zog sie ihn weiter.
»Und doch gehen wir dorthin – und damit vielleicht in den Tod«, murmelte Antil, dann setzte er sich wieder vor Legana, um sie auf einem Weg über die Straße zu führen, der nicht so gefährlich war, abseits der Wagen und Pferde. Da stieß ihn jemand von hinten an, und Leganas Hand wurde ihm entrissen, als er erst auf die Knie und dann mit dem Gesicht auf die Pflastersteine fiel. Sein Kopf schlug so schnell auf den Boden, dass er nicht einmal mehr einen Schrei hervorbringen konnte.
»Huch, Entschuldigung, Vater«, sagte ein Mann hinter ihm. Antil stöhnte, weil sich Schmerz von seiner ohnehin schon kalten Hand aus durch den Arm ausbreitete.
Bevor er noch richtig wusste, wie ihm geschah, hatten ihm schon Hände unter die Arme gegriffen und ihn aufgestellt. Antil verzog das Gesicht und lehnte sich mit wackligen Knien schwer auf den Mann.
»Habt Ihr Euch wehgetan, Vater?«, fragte der Mann, der ein dunkler, verschwommener Schemen blieb, bis Antil blinzelte und sich das Bild in ein jugendliches, rundes Gesicht verwandelte, gerahmt von dunklen Haaren, die unter einer Kapuze hervorlugten. Er klang nicht so, als wäre er von hier, und den Narben in seinem Gesicht nach urteilte Antil, dass er ein Söldner war, aber er grinste wie ein Affe und seine Entschuldigungen klangen aufrichtig.
»Ich … nein, es geht mir gut, glaube ich«, sagte er und fasste sich an die Schläfe, doch dort tat nichts sonderlich weh. »Danke«, fügte er viel zu spät hinzu.
»Ach, keine Sorge«, sagte der Mann und klopfte Antil übertrieben den Staub von der Kleidung, obwohl der Geruch deutlich machte, dass Staub das geringste seiner Probleme war. »Ich habe nur nicht aufgepasst, wo ich langgelaufen bin.«
»Bei Tods knochigem Schwanz«, grollte jemand hinter dem Mann. Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, und er blickte über seine Schulter.
»Geh weiter, Kumpel, der Mann ist ein Hohepriester«, gab er zurück, doch sein Kumpan achtete gar nicht auf ihn. Er starrte Legana an. Ihre Kapuze war halb von ihrem Kopf gerutscht und im zunehmenden Mondlicht sah sie mit der bleichen Haut und dem leeren Blick wie ein Gespenst aus.
Der erste Mann musterte sie einen Augenblick. »Verfickte Scheiße«, keuchte er überrascht. Sein Kumpel schob ihn aus
dem Weg und packte Antil so grob am Kragen, dass der Priester aufschrie.
»Du betest besser zu Shotir, dass nicht du ihr das angetan hast«, zischte er, das Gesicht unmittelbar vor dem Antils. Er hatte nicht ganz so viele Narben, war aber kräftiger gebaut und schien ebenso an den Gebrauch von Gewalt gewöhnt. Antil bemerkte ein kleines Hautbild, das ausgerechnet auf dem Ohrläppchen saß. »Denn wenn du es warst, steckst du tiefer in der Scheiße, als du dir vorstellen kannst.«
»Ihr habt wenig Glück, Vater«, murmelte der erste Mann, »uns so über den Weg zu laufen. Habt Ihr die Dame in letzter Zeit verärgert?«
Lonei mochte das Land jenseits von Hale nicht. Wenn man ihn bat, ein anderes Viertel der Stadt aufzusuchen, folgte er seinen Gelübden gewissenhaft. Er vollbrachte seine Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen, um dann zurück nach Hale zu eilen, wobei sein Herz vor Angst raste, bis er die vertrauten Straßen wieder erreichte. Er war ein Findelkind, und in seinem vierten Jahr im Tempel hatte man ihm seinen Spitznamen gegeben, nicht aus Boshaftigkeit – er war ein liebenswertes Kind, man musste ihn einfach mögen –, sondern als Tatsachenbeschreibung.
Er hatte nie den Eindruck erweckt, dass er den Namen nicht mochte. Er beschrieb einfach, was er war. Ansprüche an das Leben hatte er wenige. Wenn die Götter dem dicken Lonei angeboten hätten, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, so
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