Sturmherz
demselben … wie sagt ihr das?“
„Auf derselben Grundlage?“
„Ja. Es gibt weniger Unterschiede zwischen einem Seehund und einem Menschen, als ihr denkt. Das trifft auf jedes Tier zu. Wir wurden alle aus demselben Stoff geschaffen, leben aber unterschiedliche Leben, tragen unterschiedliche Gestalten und sprechen unterschiedliche Sprachen. Die mächtigen Wesen versuchten, die Grenze zwischen Mensch und Tier zu verwischen. Viele so entstandene Geschöpfe lebten nicht lange, aber keines der mächtigen Wesen konnte sagen, warum das so war. Also versuchten sie es weiter, und als sie den Seehund nahmen, um ihn mit dem Menschen zu vereinen, gelang ihr Plan. Die Selkies entstanden und vereinten das Tier mit dem Menschen. Leider hielt der Frieden nicht lange. Die Schöpfer machten uns zu mächtig. Sie beschenkten uns mit der Fähigkeit, zwischen Land und Meer zu wechseln. Sie machten unsere Körper stark, langlebig und schön. Sie schenkten uns heilende Kräfte. Gedacht war all das, um den Menschen Gutes zu tun und ihr Vertrauen zu gewinnen. Aber in Wirklichkeit weckten Selkies nur eins: ihren Neid.“
„Wenn du mich fragst, waren die Schöpfer reichlich dämlich. Geben der einen Spezies alles, der anderen nur eine Handvoll, und dann wundern sie sich, warum eine Seite Frust schiebt.“
„Vielleicht haben die Schöpfer einfach nicht nachgedacht. Viele Fehler passieren aus Unwissenheit.“
„Und eine einzige Gruppe hat diesen Neid überlebt?“
Louan schritt gemächlich weiter. Unter einem Kletterrosenstrauch blieb er stehen, neigte den Kopf und sah mich nachdenklich an. „Früher lebten wir auf Felseninseln hoch oben in der Arktis. Daher das helle Fell. Ich kann mich nicht mehr an dieses Leben erinnern. Dafür war ich zu jung, als wir den Norden verließen.“
„Kommt ihr als Seehund zur Welt?“
„Ja. Am Anfang sind wir immer Tiere. Erst später verwandeln wir uns das erste Mal.“ Seine Stimme wurde verträumt und wehmütig. „Meine Mutter erzählte mir von blauen Gebirgen aus Eis, die unter Wasser leuchteten. Von Spitzen, Türmen und Schluchten, durch die wir schwebten, sobald wir in eines der Eislöcher tauchten. Im Sommer lagen die Felsinseln frei, im Winter waren sie von Packeis umgeben. Es muss ein wundervolles Leben gewesen sein. Meine Mutter kam nie darüber hinweg, dass wir all das hinter uns lassen mussten. Als ich die letzten Monde in der Arktis verbracht habe, bekam ich einen kleinen Eindruck davon, wie unser Leben gewesen sein muss.“
„Ihr musstet wegen den Menschen fliehen?“
„Eines Morgens tauchten riesige Dreimaster am Horizont auf.“
Seine Stimme klang kühl. Monoton und leise.
„Schiffe mit geblähten Segeln und unzähligen Männern, die mit Hacken, Knüppeln und Messern auf uns losgingen. Wir hatten Glück, weil wir sie kommen sahen. Die Herden auf den Nachbarinseln waren in der ersten Morgendämmerung überrascht worden. Kaum ein Selkie dieser Gruppen blieb am Leben. Und die Jagd ging weiter, auch als es uns gelang, zu fliehen. Wo auch immer wir auftauchten, trachteten die Menschen nach unserem Pelz. Die Meere wurden nach und nach von eurer Rasse erobert. Viele von uns starben, ehe sie eine neue Heimat fanden. Es erging uns genauso wie der Stellerschen Seekuh oder dem Riesenalk. Innerhalb weniger Jahre waren wir so gut wie ausgestorben.“
„Das tut mir leid.“
Nichts konnte den Frevel wiedergutmachen, den meinesgleichen an der Welt begangen hatte. Gewaltige Tiere wie die Stellersche Seekuh, deren Gattung Millionen von Jahren überlebt hatten, waren innerhalb weniger Jahrzehnte restlos vernichtet worden. Ein unfassbarer Gedanke. Wäre Louan den Jägern zum Opfer gefallen, stünde nun auch seine Rasse auf der endlos langen Liste ausgerotteter Arten. Und das, noch bevor der Mensch von dem Wunder der Selkies erfahren hatte.
Was wiederum dazu geführt hätte, dass man sie eingesperrt und ausgestellt, seziert und missbraucht hätte. Es war deprimierend.
Wie lebte man in dem Wissen, der letzte seiner Art zu sein? Ich beobachtete Louan, wie er von einem Rosenbusch zum nächsten ging, vertieft in Düfte und Farben. Er wirkte entspannt. Immer wieder warf er mir ein begeistertes Lächeln zu, und ich glaubte, Dankbarkeit darin zu lesen. In diesem Augenblick kam mir eine Idee. Ich ging zu dem Holzkasten hinüber, in dem das Vogelfutter lag, nahm einen Hirsekolben heraus und hielt ihn ihm entgegen.
„Leg das auf deine Hand“, wies ich ihn an. „Und dann schau, was
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