Sturmherz
passiert.“
Er tat es, und kaum hatte ich ein lockendes Zwitschern ausgestoßen, kamen sie vom Wintergarten her angeflattert. Zwölf leuchtend bunte Gouldamadinen. Ohne Scheu ließen sie sich auf Loans Hand und seinen Arm nieder, pickten am Kolben herum und verteidigten flatternd und zwitschernd ihren Platz. In schneller Abfolge wechselten die Vögel, manche wurden von ihren Artgenossen weggestoßen, andere überließen freiwillig dem Nächsten ihren Platz. Louan war stumm vor Staunen. Sein Blick verfolgte entzückt das Geschehen und verdunkelte sich vor Enttäuschung, als der Kolben leer gefressen war und die Vögel das Weite suchten.
„Wie nennt man sie?“, flüsterte er atemlos.
„Gouldamadinen“, sagte ich. „Nach Elizabeth Gould, der Frau des Zoologen John Gould.“
„Erzähl mir von ihr.“
„Sie begleitete ihren Mann Anfang des neunzehnten Jahrhunderts auf seinen Reisen nach Australien und Tasmanien. Die meisten Zeichnungen in seinen Werken stammen von ihr. Sie war eine begnadete Künstlerin, aber als Frau stand Elizabeth immer im Schatten ihres Mannes. Niemanden interessierte ihr Talent, alle sahen nur Johns Ruhm. Trotzdem waren die beiden ein glückliches Paar. Er hat seine Frau nie als niederen Menschen angesehen, sondern sie in die weite Welt mitgenommen. All seine Entdeckungen und Ergebnisse verewigte Elizabeth in wunderschönen Bildern.“
„Und wie ist es geendet?“ Aus Louans Blick sprach eine solche Traurigkeit, dass es mir das Herz zusammenschnürte. Wusste er von dem tragischen Ende der Liebenden? Oder war es etwas anderes?
„1840 kehrten sie nach England zurück“, sagte ich leise. „Elisabeth starb kurz darauf bei der Geburt ihres siebten Kindes im Wochenbett. Ihr zu Ehren nannte ihr Mann diese Vögel Lady Gould’s Amadinen . Weil sie die wunderschönsten Wesen waren, die er je erblickt hatte.“
Louan sah mich schweigend an. So ernst und starr, dass es mir kalt den Rücken hinab lief.
„Hast du noch so eine Pflanze?“, fragte er schließlich.
„Jede Menge. Warte, ich gebe dir noch eine.“
Ein Lächeln hellte sein frostiges Gesicht auf, als ich einen zweiten Kolben hervorholte. Gerade, als ich ihn ihm bringen wollte, erklang Dad’s Ruf.
„Kommt ihr? Wir warten auf euch.“
„Wir?“, echote ich verblüfft. „Wen meint er mit wir ? Ich dachte, wir wären unter uns.“
Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Ich wollte meinem Vater Louans Natur näher bringen. Ich wollte tiefer in die Welt der Selkies eintauchen und tausend Fragen stellen, aber wenn tatsächlich jemand mit uns aß, lief alles auf eine einzige Farce hinaus. Was, wenn Louan sich verriet? Wen zum Geier hatte Dad eingeladen? Etwa MacMuffin?
Die Hände zu Fäusten geballt, rauschte ich in den Wintergarten. Mein Vater lächelte mir schuldbewusst entgegen.
Neben ihm saß Olivia, diesmal selbst ganz in schwarz.
„Sie weiß es“, sagte er mit gesenktem Blick. „Sie weiß alles. Es ist okay. Wir können ihr vertrauen.“
Mir klappte die Kinnlade herunter.
Hatte ich richtig gehört?
Sie wusste alles?
Olivia zuckte zusammen und stieß einen Laut ungläubigen Staunens aus, als Louan neben mir auftauchte. Augenblicklich war jede Wut vergessen.
Was war hier los? Mein Blick wanderte zwischen dem Selkie und Olivia hin und her. Beim heiligen Kelpie, die beiden schienen sich zu kennen.
„Oh mein Gott“, stieß sie hervor. „Oh mein Gott.“
Louan schwieg. Steifbeinig ging er zu dem nächsten freien Stuhl, setzte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Nervös huschte sein Blick hin und her.
Oh verdammt, ich hätte Dad umbringen können. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Absolut nicht.
„Olivia?“ Dad räusperte sich. „Alles in Ordnung?“
Sie nickte. Ihre Finger gruben sich in goldblonde Locken, während sie hektisch nach Luft schnappte. „Moment, ich muss mich nur … Scheiße, ich dachte, ich hätte mir alles nur … oh mein Gott.“
„Warum hast du sie eingeladen?“ Ich konnte nicht mehr an mich halten. Statt mich zu setzen, packte ich Dad bei den Schultern und ließ meiner Wut freien Lauf. „Warum musstest du das tun? Dad, ich habe dir vertraut. Du weißt genau, dass … verflucht, warum hast du das getan?“
Er drückte meine Arme zur Seite. Zum ersten Mal sah ich Zorn in seinen Augen funkeln. „Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, Mari, dass auch ich jemanden zum Ausheulen brauche? Dass auch ich manchmal Unterstützung brauche, um nicht völlig den Verstand zu
Weitere Kostenlose Bücher