Sturmherz
erfüllte einen Großteil seiner Kollegen mit offen zur Schau getragener Missgunst.
„Scheiße.“ Ich schloss die Tür hinter mir und stapfte durch das nasse Gras. „Großer Mist. Ganz großer Mist.“
Meine Gedanken überschlugen sich. Louan durfte nicht auf seine Insel zurück, das stand fest. Das Beste für ihn war, dem Meer fernzubleiben. Möglicherweise wussten die Forscher nichts über die Selkies und bezogen sich lediglich auf die ungewöhnliche Gestalt und Farbe des Seehundes. Louan hatte Netze durchgebissen, viele Fischer waren Zeuge seiner verzweifelten Taten gewesen. Gut möglich, dass man auf dem Festland so von seiner Existenz erfahren hatte.
Hatte ich die Ereignisse losgetreten? Kaum lockte ich Louan an Land, wurde die Jagd auf ihn eröffnet. Was, wenn sie ihn erwischten? Ich machte ihn schwach und verwundbar. Wenn Ruth und Aaron der Wahrheit auf die Schliche kamen und herausfanden, was er für mich empfand, besaßen sie ein perfektes Druckmittel.
Es war besser, wenn Louan für immer aus dieser Gegend verschwand und dem Land den Rücken kehrte. Oder war er als Mensch unter Menschen am sichersten? Ich wusste es nicht. Wut und Resignation machten sich breit. Das Meer wie das Land boten keinen Platz mehr für ihn.
Die Zeit seiner Gattung war abgelaufen.
Entweder würde er durch die Kugel eines Fischers sterben oder sein Ende unter den Mikroskopen skrupelloser Forscher finden. Offen war wohl nur noch der Zeitpunkt, und ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm helfen konnte.
Als ich das Haus betrat, empfing mich Stille. Dad schlief immer noch seelenruhig auf dem Sofa. Ich schlich in mein Zimmer hinauf, und mit jeder Treppenstufe presste sich die eiskalte Faust fester um meinen Magen. Ich fühlte mich unwirklich. Wie ein machtloser Geist. Konnte ich mich nicht einfach zu meinem Selkie legen, an seiner Seite einschlafen und für immer mit ihm zusammen in sorgloser, warmer Dunkelheit schweben?
Es krampfte mir das Herz zusammen, als ich ihn auf meinem Bett liegen sah. Zusammengerollt wie ein Embryo, verwundbar und ahnungslos. Kaum setzte ich mich auf die Bettkante, drehte er sich zu mir um und lächelte. Freude leuchtete in seinen Augen.
„Mari“, nuschelte er verschlafen. „Was ist los?“
„Louan … ich …“ Meine Stimme wollte mir den Dienst versagen, doch ich zwang mich dazu, weiterzusprechen. „Du bist in Gefahr. Du musst hier weg.“
„Hm?“ Er schien kaum zu begreifen, was um ihn herum geschah. Verwirrt blinzelte er zu mir hoch. „Was ist los? Du hast geweint?“
„Nein.“ Eine glatte Lüge. „Ich war unten im Café, als … ach verdammt, da waren zwei Wissenschaftler von der Universität Inverness. Ruth und Aaron. Sie sind auf der Suche nach dir. Nach weißen Seehunden. Und sie kennen deine Insel.“
Louans Gesicht verfinsterte sich. Die Freude verschwand aus seinen Augen. „Was?“
„Sie sind unterwegs nach Skara Bare.“ Ich nahm ihn bei den Schultern und sah ihn eindringlich an. „Du darfst nicht dorthin zurückkehren, hörst du? MacMuffin arbeitet als ihr Führer, aber er hat keine Ahnung. Er glaubt, dass sie nach normalen Seehunden suchen.“
„Woher wissen sie von mir?“ Louan rieb sich mit rührend unbeholfenen Gesten den Schlaf aus den Augen. Begriff er überhaupt, wie heikel die Lage war? „Bist du dir ganz sicher?“
„Ja, bin ich. Die Zeiten haben sich geändert. Mittlerweile besitzen die Menschen Techniken, die du dir in deinen wildesten Träumen nicht vorstellen kannst. Es gibt Handykameras, Internet, Infrarotkameras, Spionagesatelliten. Was weiß ich. Jeder Idiot kann aus seinem Wohnzimmer heraus die ganze Welt begaffen, indem er ins Internet geht und mit Hilfe der Satelliten Bilder und Filme abruft. Vielleicht kann man sogar auf Skara Brae runterzoomen und sieht jeden Klecks Möwenkacke. Keine Ahnung. Alles ist möglich.“
Louan nickte und starrte schlaftrunken ins Leere. Ich wollte ihn schütteln, ihn anschreien, ihm irgendwie begreiflich machen, auf welche Gefahr er zusteuerte.
„Vielleicht wissen sie gar nichts von Selkies und suchen nur nach einem ungewöhnlich gefärbten Seehund“, überlegte er. „Ich verwandele mich nie, wenn ich mir nicht sicher bin, unbeobachtet zu sein.“
„Das spielt keine Rolle. Wenn sie noch nichts von deinen Fähigkeiten wissen, werden sie sie spätestens erkennen, wenn du ihnen ins Netz gehst und sie dir auf den Zahn fühlen.“
Louan blinzelte. „Was meintest du gerade mit Satelliten?“
„Das sind so eine
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