Sturmsegel
ein Zeichen, das der Pastor dem Küster gegeben hatte, wurden die Glocken angeschlagen. Ihr unvermittelter Klang scheuchte ein paar Tauben aus dem Kirchturm, die gurrend über den Friedhof hinwegflatterten. Anneke fragte sich, ob die Seele ihrer Mutter mit ihnen flog.
Der Pastor las jetzt einen Psalm vor, doch die Worte drangen nicht bis in Annekes Verstand vor. Etwas irritierte sie und sie blickte kurz zur Seite. Durch den Tränenschleier erkannte sie eine Gestalt, die ihr fremd erschien.
Es war ein schwarz gekleideter Mann, der sich gerade den Hut vom Kopf zog und in ihre Richtung sah. Hatte sie seinen Blick gespürt? Sie war nicht sicher, ob sie ihn hier schon einmal gesehen hatte. In Stralsund lebten viele Menschen und die Gesichter jener, mit denen sie nicht häufiger zu tun hatte, blieben kaum in ihrer Erinnerung haften.
War er jemand, den ihre Mutter gekannt hatte? Er wirkte jedenfalls nicht so, als sei er bloß zufällig vorbeigekommen. Dann wäre er sicher bald weitergegangen. Doch das tat er nicht. Er musterte die Trauergemeinde mit ernster Miene, und als er Annekes Blick bemerkte, nickte er ihr kurz zu.
Das Mädchen wandte den Blick verwirrt wieder ab. Warum grüßte er sie? Wer war er und was wollte er hier?
Nach der Aussegnung wurde der Sarg in die Grube gelassen. Anneke warf ihm drei Handvoll Sand hinterher und ihre Tränen tropften in die Grube. Dann trat sie zurück.
Gemeinsam sprachen sie nun das Vaterunser, dann war die Beerdigung schon vorüber und die Totengräber konnten sich ans Werk machen.
»Hast du den Mann gesehen?«, fragte Anneke ihre Freundin Marte, als sich der Trauerzug wieder dem Tor des Kirchhofes näherte.
Diese blickte sie erstaunt an. »Welchen meinst du?«
»Na den, der etwas abseits gestanden hat. Den Mann mit dem Federhut.«
Marte zog die Augenbrauen zusammen und überlegte. »Nein, den habe ich nicht gesehen.«
»Er stand dort an der Seite.« Anneke deutete auf die Stelle, die nun verwaist war. »Er trug schwarze Kleider und die Feder an seinem Hut war schneeweiß. Aus irgendeinem Grund wollte er wohl nicht näherkommen.«
»Und wo ist er jetzt?« Marte reckte suchend den Hals. Doch auch sie konnte den Mann nicht mehr entdecken.
»Ich weiß es nicht«, gab Anneke zurück und zog fröstelnd ihr grobes Schultertuch zusammen. Das unvermutete Auftauchen dieses fremden Mannes beunruhigte sie.
»Vielleicht war da nur jemand neugierig«, winkte Marte ab.
Doch Anneke glaubte das nicht. Der Mann hatte nicht so gewirkt, als wollte er bei der Beerdigung einer Unbekannten zusehen. Hatte ihre Mutter vielleicht Schulden bei ihm?
Schließlich löste sich die Trauergemeinde auf. Der Pastor sagte ein paar tröstende Worte zu ihr, aber Anneke hörte nur halbherzig hin. Nichts, was er sagte, konnte die Trauer in ihrem Herzen lindern.
Als er fort war, nahm Marte sie schweigend in den Arm.
»Du kannst jederzeit zu uns kommen, wenn du etwas brauchst«, sagte ihr Vater Hans Hagebohm, als er neben die Mädchen trat. Er trug wie immer seine Uniform und musste sicher gleich wieder zum Dienst zurück. »Pass auf dich auf.«
Anneke nickte dankend und blickte dann der Freundin nach, wie sie mit ihrem Vater in einer Seitengasse verschwand.
Während die Totengräber nun begannen, ihr Werk zu verrichten, trat sie durch das Friedhofstor.
Nun war sie ganz allein.
Ein Karren rumpelte über das Pflaster, gefolgt von einem Schwein, das quiekte, als sei der Metzger mit seinem Messer hinter ihm her, irgendwo bellten Hunde und ein paar Leute gingen schwatzend an ihr vorbei. Niemand kümmerte sich um das Mädchen, das verloren vor der Steinmauer stand, das Herz voll tiefer Trauer, und nicht wusste, was nun werden sollte.
*
Die Hütte, in die Anneke wenig später zurückkehrte, erschien ihr jetzt gespenstisch leer. Überall knackte und knarzte es in den Wänden und Balken. Obwohl sich der Sonnenschein tapfer durch die gerade aufziehenden Wolken kämpfte, war es innerhalb der Lehmmauern kalt.
Ein Feuer hätte zumindest die kühle Luft erwärmen können, doch Anneke hatte nicht die Kraft, eines zu entfachen. Die Kälte in ihrem Innern war ohnehin größer als die auf ihrer Haut.
Seufzend setzte sie sich an den Küchentisch und stützte den Kopf in die Hände.
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander.
Sie hatte ein Dach über dem Kopf, doch sie brauchte auch etwas zu essen. Eine Anstellung zu finden, würde jedoch schwierig sein, denn die Zeiten waren hart. Durch den Krieg hatte kaum jemand genug
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