Sturmsegel
dass sie dumm wäre. »Mutter hat es mir beigebracht.«
Der traurige Ausdruck kehrte nun wieder auf sein Gesicht zurück. »Ja, deine Mutter war eine besondere Frau.«
Schließlich erhob er sich und griff nach Hut und Handschuhen.
»Ich komme morgen wieder«, sagte er, als er sich zur Tür wandte. Seine Stimme klang belegt. »Denk über meine Worte nach. Wenn du möchtest, kommst du zu mir und bist fortan die Tochter eines Kaufmanns.«
Damit fiel die Tür ins Schloss.
Anneke blieb am Küchentisch sitzen und starrte auf ihre Hände. Ein Herbststurm hätte nicht so ein großes Durcheinander anrichten können, wie die Worte des Kaufmanns es in ihrem Herzen ausgelöst hatten.
Was sollte sie nun tun?
Da sie im Moment keine Entscheidung treffen konnte, erhob sie sich und ging zu dem Huhn, das auf dem Boden des Käfigs saß und alles genau beobachtete.
Das Mädchen hockte sich daneben an die Wand und blickte zum Fenster hinaus. Ein paar Wolken zogen vorbei, die ersten Schwalben flatterten um das Haus.
Ihr habt es leicht, dachte Anneke. Ihr fliegt, wohin ihr wollt, und niemand kümmert sich darum, wer ihr seid. Euer Platz ist überall in der Welt. Und meiner? Wo gehöre ich nun hin? Hierher oder ins Kaufmannshaus?
»Was meinst du?«, fragte sie schließlich das Huhn. »Sollen wir zu Roland Martens gehen?«
Der große, weißfedrige Vogel sah sie verständnislos an. Er wusste nichts von den Wegen der Menschen und von den Wirren, denen sie sich gegenüber sahen. Er lebte von einem Tag zum anderen, nur besorgt um das Korn, das er pickte.
Anneke umklammerte ihre Knie und legte den Kopf auf die Arme. »Mutter, was würdest du mir raten?«, fragte sie in die Stille und hoffte, dass sie irgendein Zeichen erhielt.
*
Die ganze Nacht über wälzte sie sich unruhig von einer Seite auf die andere. Immer wieder vergoss sie Tränen um ihre Mutter, außerdem grübelte sie über das Angebot des Kaufmanns nach.
Sollte sie zu ihm gehen? Immerhin war er ein angesehener Kaufmann. Aber sie kannte ihn überhaupt nicht. Vielleicht war er ja gar nicht so freundlich, wie er schien!
Sie versuchte sich also vorzustellen, was ihre Mutter dazu gesagt hätte. Wäre sie, die zeitlebens nichts von Roland Martens annehmen wollte, damit einverstanden gewesen, dass sie zu ihm ging?
Johanna Thießen mochte ihren eigenen Kopf gehabt haben, aber sie war nicht unvernünftig. Sie hätte gewiss gewollt, dass ihre Tochter versorgt war.
Warum hast du mir keine Nachricht hinterlassen?, dachte Anneke traurig. Warum hast du mir nicht von ihm erzählt, als du krank wurdest?
Wahrscheinlich, weil sie nicht damit gerechnet hatte, wirklich zu sterben, antwortete ihr eine kleine Stimme aus den Tiefen ihres Herzens. Wer glaubt denn schon, dass es wirklich zu Ende geht, selbst wenn er dem Tod bereits ins Auge blickt?
Vielleicht sollte ich zu Marte gehen und sie um Rat fragen, ging es Anneke durch den Sinn. Ihr Körper fühlte sich schwer an, aber die Unruhe in ihrem Herzen würde verhindern, dass sie schlafen konnte.
Anneke erhob sich aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen zur Wäschetruhe. Sie entschied sich für ihr blaues Kleid, denn durch seine dunkle Farbe würde sie dem Nachtwächter nicht auffallen.
Als sie fertig angekleidet war, verließ sie das Haus. Die Kiebenhieberstraße war so still, wie sie es noch nie erlebt hatte. Nirgends in der Nachbarschaft brannte noch ein Licht.
Der Wind war schneidend und über ihr funkelten Tausende Sterne am klaren Nachthimmel. Der Ruf eines Kauzes hallte aus der Ferne.
Der Weg zu Martes Haus führte an einem Gasthaus vorbei, aus dem tatsächlich noch Licht und Stimmen drangen. Ein paar Männer torkelten ihr entgegen, doch kümmerten sich nicht um sie. Anneke huschte durch eine Seitengasse und näherte sich nun dem Haus des Scharfrichters von Stralsund.
Kaum ein Ort in der Stadt erschien Anneke unheimlich, aber dieses Gebäude, aus dem zuweilen die grässlichen Schreie von Gefolterten drangen, jagte ihr einen kalten Schauder über den Rücken und brachte sie dazu, schneller zu laufen.
Schließlich erreichte sie das Haus des Stadtsoldaten Hagebohm.
Sämtliche Fensterläden waren verschlossen und kein Lichtstrahl drang unter ihnen hervor. Anneke schlich um das Anwesen herum, bis sie die Giebelseite vor sich hatte. Unterhalb der Seilwinde, mit der Säcke auf den Kornboden gehievt wurden, lag das Fenster zu Martes Kammer. Auch dieser Fensterladen war verschlossen. Anneke sammelte ein paar Steine auf und warf sie
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