Sturmsegel
zärtlich die Tränen von den Wangen strichen. »Und wo warst du die ganze Zeit?«
Noch immer schluchzte sie, doch auf ihr Gesicht trat nun ein glückliches Lächeln.
»Ich wurde von Fischern in einem Boot aus dem Wasser gezogen. Sie haben mich in den Hafen mitgenommen und mir was zu Essen gegeben. Sie hätten mich auf dem Boot übernachten lassen, aber ich wollte nach dir suchen. Gestern war ich beim Kontor deines Vaters, aber da war alles verriegelt.«
Dann haben wir uns wohl nur knapp verfehlt, dachte Anneke, doch darüber konnte sie sich jetzt nicht mehr ärgern.
»Und dein Vater?«
Ingmars Miene verfinsterte sich, dann senkte er traurig den Kopf. Das sagte schon alles.
Anneke presste die Lippen aufeinander. Da Svensson von Bord gespült wurde, war es das Naheliegendste, dass er nicht überlebt hatte. Aber ein klein wenig hatte sie doch darauf gehofft, dass er sich ebenfalls an irgendeinem Schiffsteil festgehalten hatte und an Land gespült worden war.
Ingmar schwieg beklommen, während Anneke ihn erneut in ihre Arme zog und tröstend durch sein Haar strich.
»He, willst du uns deinen Freund nicht vorstellen?«, fragte Sönke schließlich. Ihre Brüder hatte sie beinahe vergessen.
Anneke fasste Ingmar bei der Hand und zog ihn mit sich.
»Das ist Ingmar Svensson, ich habe ihn in Stockholm kennengelernt. Er war mit mir auf dem Schiff, das untergegangen ist.«
Das musste als Erklärung reichen.
»Ist dein Liebster, was?«, spottete Hinrich, doch Anneke konnte deutlich heraushören, dass er neidisch war, selbst noch kein Mädchen zu haben.
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht!«, gab sie zurück.
»He, ich bin dein Bruder!«
Diese Anmerkung ignorierte Anneke, während sie erklärte: »Er wird mitkommen, wenn wir Vater befreien! Vielleicht kann er für uns Schmiere stehen!«
Als sie Ingmars überraschten Blick bemerkte, erklärte sie ihm so kurz wie möglich, was geschehen war.
»Ihr wollt ihn einfach so aus dem Haus des Scharfrichters holen?«, fragte er dann erschrocken.
»Das wollen wir nicht nur, das werden wir!«, entgegnete Hinrich entschlossen. »Oder zweifelst du daran, Schwede?«
»Nein, ich zweifle nicht, aber euer Plan muss schon sehr gut sein. In Stockholm ist es nur selten jemandem gelungen, dem Kerker zu entfliehen.«
Hinrich lag sichtlich die Erwiderung auf der Zunge, dass Stralsund nicht Stockholm sei. Dann schien ihm einzufallen, dass dieser Vergleich seine Heimatstadt in ein schlechtes Licht stellen könnte, und er verkniff ihn sich.
»Unser Plan ist gut, Schwede, keine Sorge«, entgegnete Sönke ruhig.
Anneke blickte ihn überrascht an. Seit wann hatte er denn einen Plan?
»Eigentlich ist es unsere Sache, denn es ist unser Vater, der im Scharfrichterhaus einsitzt«, fuhr der älteste Martens-Sohn fort.
Lautes Magenknurren seitens Ingmar folgte seinen Worten, offenbar hatte er seit der Mahlzeit bei den Fischern nichts mehr gegessen.
»Wenn du deine Eingeweide nicht im Zaum halten kannst, bleibst du hier!«, schimpfte Hinrich, worauf ihm Anneke einen strafenden Blick zuwarf.
»Er wird mitkommen«, beendete Sönke den Streit, bevor er richtig aufkommen konnte. »Wir können ihn auf jeden Fall gebrauchen, und wenn er zu Anneke gehört, gehört er auch zu uns.«
Schließlich tauchte das Scharfrichterhaus vor ihnen auf. Das, was zu erkennen war, wirkte noch unheimlicher als ein Friedhof bei Nacht.
»Vor dem Henker müssen wir uns in Acht nehmen«, bemerkte Hinrich, während er sich an die Mauer des gegenüberliegenden Hauses presste. »Es geht die Rede, dass er vor Kurzem einen Dieb erschlagen hat, der ihm den Ring für seine Braut stehlen wollte. Er wird dasselbe mit uns machen, wenn er uns bemerkt.«
»Aber wir sind doch jetzt zu viert!«, wandte Anneke ein.
»Ja, das sind wir, aber der Henker hat Knechte, die mindestens genauso stark sind wie er selbst. Und du bist …«
»Was?«, fuhr Anneke ihn an, denn sie vermutete, dass er jetzt wieder ihren schrecklichen Spitznamen verwenden wollte.
»Du bist ein Mädchen und hast keine Ahnung, wie man eine Waffe führt«, entgegnete er und ihr entging nicht das schelmische Funkeln in seinen Augen. Sie würde sich wohl nie darauf verlassen können, dass er sie nicht als ›Hurenbalg‹ ansprach.
»Das nicht, aber ich habe vielleicht eine Idee, wie wir den Henker ablenken können.«
»Und welche? Willst du auf dem Hof singen und tanzen?«
Anneke schüttelte den Kopf. »Nein. Etwas anderes. Dazu müssen wir aber erst einmal
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