Sturmwelten 01
angetrieben. Du hast uns nicht wie Menschen behandelt, sondern wie Vieh. Und jetzt stirbst du selbst wie Vieh.
Seine Finger zuckten schließlich nur noch, und er verlor den Halt und sank zu Boden, wo sein Blut aus der tiefen Halswunde sprudelnd in den Staub lief. Seine Lippen bewegten sich, vielleicht betete er zu seiner Einheit, vielleicht verfluchte er sie. Es war ihr egal. Das Bild seines sterbenden Leibes würde sie nicht vergessen, wie sie nie vergaß; sie würde es sehen, wie sie die Gehängten und Erschlagenen sah, wie all die Toten, denen sie nicht entkommen konnte.
Ohne auf sein Flüstern zu achten, stemmte sie sich gegen den Balken. Er war schwer, doch als sie mit aller Kraft ihre Schulter dagegendrückte, hob er sich langsam, löste sich aus seiner Halterung und fiel endlich polternd zu Boden. Zwölf Herzschläge lang stand sie still, doch niemand hatte es gehört. Zu sehr würden alle auf die Bucht achten, wo inzwischen wieder Kanonendonner erklang. Sie schob das Tor auf und nahm einen der Keile, mit denen die Torflügel tagsüber aufgehalten wurden. Sie rammte den Keil so fest sie konnte unter das Tor und zog den Balken nach draußen, wo sie ihn neben dem Tor ein Stück die Klippe hinabwarf.
Dann eilte sie weiter, dorthin, wo Majagua noch immer in der Sonne lag. Ein schneller Blick nach oben zeigte ihr, dass sie recht hatte: Sie sah Soldaten und Aufseher auf den Mauern, doch niemand guckte zu ihnen nach unten. Alle Aufmerksamkeit ruhte auf den Schiffen, denen sie selbst jetzt keinen Blick gönnte. Sie hatte nur Augen für Majagua, dessen geschundener Leib ihr furchtbar klein und verletzlich erschien.
»Sie sind da, sie sind da«, flüsterte der junge Krieger mit trockenen, gerissenen Lippen, die Sinao mit einem Kuss für einen Moment schloss.
»Ja.«
Sofort begann sie, seine Fesseln mit dem Messer durchzuschneiden. Ihre Finger waren glitschig vom Blut des Soldaten, doch sie hatte die Klinge gut geschärft. Schon bald waren seine Arme frei, und mit unsicheren Fingern half er ihr bei den Beinen.
»Ich habe dir gesagt, dass du nicht sterben darfst«, erklärte sie, als er sie in die Arme nahm und küsste, wohl voller Unglauben, tatsächlich noch am Leben zu sein. »Wir müssen …«
Ein Schrei aus dem Lager unterbrach sie. Es war das Heulen des Krieges, die Stimme der Paranao im Kampf, ein langer, vibrierender Ton, der ihr Herz schneller schlagen ließ.
»Bara und die anderen«, flüsterte Majagua. Tatsächlich ergoss sich eine Flut von Leibern aus dem Lager. Ein wahrer Strom, der sich bald schon in zwei Teile spaltete. Die meisten bewegten sich zum Strand, zum Wasser, wo sie auf die Hilfe der Fremden warten würden. Doch die Krieger und jene, die sich ihnen anschließen wollten, rannten die Klippen empor, den schmalen Pfad entlang, der zur Festung führte. Sie hatten sich so gut bewaffnet, wie es ihnen möglich war – mit Speeren und Steinklingen, und der Zorn umloderte sie in Sinaos Augen wie eine rot glühende Aura.
Dieser Aufruhr blieb bei den Blassnasen nicht unbemerkt, und Sinao hörte Schreie von der Mauer. Ein Schuss ertönte, und neben ihnen stieg ein Staubwölkchen auf.
»Komm«, rief Majagua. Er stand noch zitternd auf den Beinen, aber in seinen Augen glühte das gleiche Feuer, das auch die anderen Krieger antrieb. Ihr habt uns zu lange geschunden, fuhr es Sinao durch den Kopf. Jetzt gibt es nichts mehr, was unsere Wut aufhalten kann.
Sie folgte Majagua zum Tor der Festung, wo der Soldat lag, den inzwischen alles Leben verlassen hatte. Mit großen Augen schaute Majagua sie an: »Hast du …?«
»Ja«, erwiderte sie grimmig und hob die blutige Hand. Das düstere Grinsen in seinem verschorften Gesicht reichte von einem Ohr bis zum anderen. »Du bist eine Cajaya«, erklärte er ehrfürchtig, als er dem Toten seinen Dolch und sein Gewehr abnahm. Dann blickte er sich wild um.
»Lass uns kämpfen!«
FRANIGO
Die angenehme Lebensart hatte den Ärger verfliegen lassen, auch wenn die Schuld noch immer wie ein Stachel in Franigos Fleisch saß und ihn gelegentlich zwickte. Von den Géronaee war nichts Besseres zu erwarten gewesen, schließlich waren sie noch immer Invasoren und ungeliebte Besatzer. Natürlich hätte ein Souverän sich besonders um jene Kinder seines Landes kümmern sollen, die in seinen Kriegen Blut, Gliedmaßen und Leben ließen, doch die Welt war, wie Franigo als eifriger Student der menschlichen Seele wusste, schlecht. Wenn er sich aber im Spiegel der Ereignisse
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