Sturmwelten 01
mehrere Herzschläge lang, bis die Beklemmung in ihrer Brust nachließ, bis sie frei atmen konnte und nicht mehr das raue Seil um ihren Hals spürte. Als sie sich beruhigte, hörte sie Brizulas vertrautes Atmen neben sich, und irgendwo im Dunkeln hustete Bebe. Erschöpft strich sie sich einige Haare aus dem Gesicht und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Körper flehte um Ruhe, doch als sie die Augen wieder schloss, sah sie wieder die Gehenkten und fuhr auf.
»Was’n?«, knurrte Brizula. Für einen Augenblick überlegte Sinao, der Älteren von ihren Träumen zu erzählen, doch dann sagte sie: »Ich muss mal.«
Vorsichtig erhob sie sich und ging mit tastenden Schritten durch den Raum. Sie brauchte nichts zu sehen, um ihren Weg zu finden. Nach sieben Schritten erreichte sie die Tür und schlüpfte hindurch. Im Treppenhaus war es etwas weniger stickig, und sie atmete erleichtert auf. Ohne Eile schritt sie die Treppe empor. Es gab einen Aborterker ein Stück in den Gang hinein, doch sie blieb in dem kleinen Raum am Absatz der Treppe stehen.
Hier gab es eine Schießscharte, und sie kam manchmal nachts hierher, um hinauszublicken. Über ihr würden die Soldaten ihre Runden ziehen; zuweilen konnte man ihre Stimmen hören oder einen schwachen Lichtschein sehen. Die Scharte führte hinaus auf die Bucht, aber wenn man den Kopf hindurchsteckte, konnte man auch einen kleinen Teil der Insel sehen. Der Himmel war dunkel, doch Myriaden von Sternen blickten auf Sinao herab. All die Ahnen, denen von Anui ein kleiner Teil seines Sonnenlichts auch für die Nacht gegeben worden war. Der einzige Lichtschein sonst waren zwei Laternen an dem großen Schiff, das immer noch in der Bucht lag. Ihr Licht spiegelte sich in der glatten See, deren leises Rauschen beruhigend an Sinaos Ohren drang.
Weiter oben auf der Insel konnte sie den dunklen Fleck des Lagers zwischen den helleren Flächen des gerodeten Waldes erkennen. Im Lager gab es kein Licht, und Sinao konnte nur raten, wie viele der Sklaven dort wohl ebenso wie sie nicht schlafen konnten. Wer wird sich morgen nicht mehr erheben? Wie viele Leben wird die Nacht kosten?
Unsicher wanderte ihr Blick zurück zu dem Schiff. Während das Lager bedrohlich wirkte, wie ein menschenfressendes Ungetüm, das im Schatten auf seine Beute lauerte, sah das Schiff friedlich aus, wie es still dalag. Auch dort schliefen Menschen. Sie waren nicht dem Tode geweiht. Majagua hat recht: das Schiff ist groß. Sinao wollte den Gedanken nicht zu Ende denken, doch er schlich sich ungebeten in ihren Geist. Dort ist Platz für viele Menschen.
Obwohl sie selbst niemals frei gewesen war, wusste sie von ihrer Mutter, dass die Paranao ein Volk von Seefahrern waren. Überall zwischen den Inseln der Welt fuhren ihre Kanus, von den kleinen bis zu denen, die viele Schritt lang waren. Zwischen allen Inseln, auf denen die Paranao und ihre Nachbarn lebten, war gehandelt und Krieg geführt worden, bis die hellen Menschen aus Corbane kamen, mit ihren gewaltigen Schiffen, den Kanonen und Musketen und ihrem Stahl. Die Neuankömmlinge führten ihre eigenen Kriege, und sie nahmen jede Insel in Besitz, wie und wann sie wollten. Und jeden Paranao, so wie meine Mutter. So wie mich. Wie Majagua.
Ohne ihr Zutun kehrten ihre Gedanken zu dem jungen Paranao zurück. Er war um so vieles lebendiger als die meisten anderen hier, die schon Geister waren, ohne es zu wissen. Sein Geist war nicht gebrochen, sein Körper zeigte noch den Stolz eines Paranao, der frei geboren worden war. Wenn sie ihn ansah, spürte sie eine seltsame Sehnsucht. Den Wunsch, ihn zu berühren, heimlich seine Haut anzufassen, so leicht, dass er es gar nicht merken würde. Und die Sehnsucht, ebenso stolz zu sein wie er. Ebenso frei, und wäre es nur für einen Augenblick. Das ist gefährlich, Sin. Schon der Wunsch ist gefährlich. Du weißt, wie er enden wird. Grau und gebrochen wie sie alle. Oder tot an den Mauern. Es gibt keine Freiheit auf der Insel, nicht für einen, dessen Haut nicht blass und teigig ist.
Sie richtete ihren Blick wieder auf die Bucht. Das Segelschiff würde morgen verschwinden und vielleicht niemals wiederkehren. Aber andere würden kommen, ebenso groß und ebenso schön. Auch diese würden eine Zeit in der Bucht liegen, bis sie beladen waren. Einige Tage, bevor sie wieder hinter dem Horizont verschwanden und in andere Welten fuhren.
Zweifelnd sah Sinao zu dem Schiff. Überall waren Taue, die Masten waren wie von Spinnweben umgeben.
Weitere Kostenlose Bücher