Sturmwelten 01
eigenen Worte zu glauben. Sehr sanft nahm sie den Arm und half dem Fähnrich auf. Der Maat hakte sich auf der anderen Seite unter, und gemeinsam trugen sie das Mädchen eher, als dass sie ging. Sie mussten quer durch das Geschützdeck bis zum Bug, vorbei an den vielen Augen der Seeleute, die es sich in ihren Freiwachen in den Hängematten bequem gemacht hatten. Sich mit Würde an der Mannschaft vorbeizuarbeiten war unmöglich, doch Tola musste in das Lazarett. Also ignorierte Roxane die Blicke, das Grinsen und die geflüsterten Worte, auch wenn sie ihr in der Seele wehtaten.
Das Mädchen indes schien ohnehin nahe daran zu sein, das Bewusstsein zu verlieren, und ihre Augen waren glasig und unfokussiert.
Endlich erreichten sie die Tür zum Lazarett und trugen den Fähnrich hinein. Vorsichtig ließ Roxane das Mädchen in eine Hängematte gleiten, sorgsam darauf bedacht, das rote, blutige Fleisch nicht mit dem rauen Stoff in Verbindung zu bringen.
»Holen Sie die Ärztin«, befahl sie dem Maat, der froh zu sein schien, der ganzen Angelegenheit zu entkommen. Mit ihren widerstreitenden Gefühlen hadernd, kniete sich Roxane neben die Hängematte und hielt Tolas Hand. Die Haut des Mädchens war grau, und ihr stand der Schweiß im Gesicht. Sie wirkte wie eine Sterbende, und Roxane fürchtete plötzlich, an ihrem Tod schuld zu sein.
Just in diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Saefled Tabard, die Schiffsärztin der Mantikor, trat ein. »Eine harte Bestrafung?«, fragte sie, noch bevor sie Roxane begrüßt hatte.
»Zwei Dutzend Hiebe, Thay.«
»Meine Güte, was hat sie getan? Den Kompass über Bord geworfen?«
»Nein, Thay. Sie hat …«
»Ich will es nicht wissen«, unterbrach sie die Ärztin. »Reichen Sie mir bitte den Kasten dort.«
Mit ungeschickten Fingern tat Roxane, wie ihr geheißen. Sie sah zu, wie Tabard den Kasten aufklappte und ihm ein kleines Fläschchen entnahm.
»Sie sind hier keine Hilfe, Leutnant, im Gegenteil. Schicken Sie mir den Maestre her.«
»Der Kapitän hat die Order gegeben, dass der Maestre an Bord …«
»Keine Vorträge darüber, bitte«, knurrte die Ärztin, dann sah sie Roxane eindringlich an, bevor sie freundlicher fortfuhr: »Das werde ich mir noch oft genug von Groferton anhören müssen auf dieser Reise. Ich übernehme jede Verantwortung; die Behandlung von Verwundeten liegt allein in meiner Hand. Schicken Sie mir den Maestre. Bitte.«
»Sofort, Thay«, erwiderte Roxane und verließ das Lazarett. Ein letzter Blick zurück zeigte ihr, dass Tola wohl endgültig das Bewusstsein verloren hatte.
Ohne weiter auf die Seeleute zu achten, ging sie so schnell sie konnte, ohne jedoch zu rennen, das Geschützdeck entlang. Ihre Stiefel schlugen auf den Holzboden, alle Gespräche waren verstummt, es war das einzige Geräusch. Keiner grinste mehr. Endlich erreichte sie die Messe und die Quartiere der Offiziere.
»Maestre?«, rief sie und schlug mit der Faust gegen seine Tür.
»Ja?«
»Melden Sie sich im Lazarett, Thay«, befahl sie. Kurz darauf öffnete sich die Tür, und ein zerzauster Groferton trat heraus. Ohne ein weiteres Wort zwängte er sich an Roxane vorbei, die einen Moment wie betäubt dastand, ehe sie die Messe aufsuchte. Blind fanden ihre Hände den Tisch, und sie ließ sich auf eine der Bänke fallen. So sehr war sie in Gedanken versunken, dass sie Frewelling erst bemerkte, als er sich räusperte.
»Wie, äh, wie geht es ihr?«
»Sie ist im Lazarett. Die Ärztin hat den Maestre holen lassen«, erklärte Roxane mit dumpfer Stimme. »Der Fähnrich wird es überleben.«
Mit seinem Zweispitz in der Hand setzte sich Frewelling ihr gegenüber hin. Seine Finger spielten nervös mit dem Rand des Hutes.
»Zwei Dutzend?«
»Es macht also schon die Runde«, stellte Roxane fest.
»Natürlich.«
»Zwei Dutzend Hiebe. Ich habe protestiert, aber …«
Ihre Stimme wurde leise, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Es war nicht Ihre Schuld, Leutnant«, befand Frewelling eindringlich. »Sie haben getan, was Sie konnten.«
»Habe ich das?« In Roxanes Ohren echote noch das erstickte Keuchen des Mädchens, als die Knute wieder und wieder niederfuhr. An ihren Handgelenkten pochten die Kratzer von Tolas Fingernägeln im Einklang mit der Scham, die Roxane die Röte ins Gesicht trieb. Wütend wandte sie sich um und starrte Frewelling an: »Habe ich das? Zwei verdammte Dutzend! Für eine Nachlässigkeit!«
»Sie konnten ihn nicht aufhalten! In seinem Zustand hätte er Sie
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