Sturmwelten 01
seinem Versteck gezogen hatte, blieb sie noch einige Zeit stehen. Danke, Anui. Ich danke meinen Ahnen. Draußen donnerte es einmal so laut, dass sie es selbst hier unten in den Kellern hörte, dann kam die Stille zurück. All die Vorräte waren wertvoll, aber sie konnten sie nicht mitnehmen. Ein letztes Mal blickte sich Sinao fast wehmütig um. Der Keller, ihr Reich, ihr geheimer Ort, ihre Zuflucht. Dann wandte sie sich ab. Ich verlasse die Finsterwelt, um im Licht zu leben. Ich werde mit Majagua leben, so wie wir es wollen.
Als sie nach oben zurückkehrte, schauten alle sie erwartungsvoll an. Sie hatten Beutel um den Leib geschlungen, gefüllt mit hellem Brot und mit Wurst, die sonst nur für die Blassnasen bestimmt gewesen waren. Bebe trug einen Schlauch mit Wasser über der Schulter.
»Was ist mit ihm?«, fragte Brizula mit einem Nicken in Dagüeys Richtung. Eigentlich wollte Sinao den Alten auslachen, ihn beschimpfen, ihm sagen, wie falsch sein Handeln gewesen war, doch seine eingefallenen Gesichtszüge und sein schmerzhaft gequälter Atem ließen sie schweigen. In ihr kämpften Abscheu und Mitleid, und sie konnte ihr Herz nicht ganz gegen ihn hart machen.
»Wir nehmen ihn mit. In einer Decke. Zwei von uns tragen ihn.«
Sie konnte nicht sagen, ob der Alte sie gehört hatte. Seine Miene blieb jedenfalls eine schmerzverzerrte Fratze.
Vorsichtig hoben sie ihn hoch, was ihn jämmerlich husten ließ. So schnell sie konnten, stiegen sie die Treppe empor, hasteten durch die schattigen Gänge des Forts. Und prallten beinahe gegen den jungen Soldaten, der sich krampfhaft an seine Muskete klammerte und mit einem Schrei zurücksprang und die Waffe auf sie richtete.
»Zurück!«, brüllte er mit einer hohen Stimme, in der Panik mitschwang. Langsam ließ Sinao den Alten herabsinken und legte ihn auf den Boden. Sie zeigte ihre leeren Hände, ging einen Schritt auf den Mann zu.
»Wir sind unbewaffnet. Wir wollen nur fort von hier«, erklärte sie. »Wenn wir nicht kommen, wird man uns suchen. Viele Krieger, mit Gewehren und Messern. Lass uns gehen, und du siehst uns nie wieder.«
Unsicher starrte er sie an, warf einen hastigen Blick über die Schulter. Seine Hände zitterten, die ganze Muskete bebte.
»Z-zurück«, stotterte er. Dass ein Soldat sie fürchtete, war nur ein schwacher Trost für Sinao. Jetzt wollte sie nur weg von hier, wollte ihre Leute fortbringen. Der Soldat scherte sie nicht; ob er lebte oder starb, war ihr egal.
»Lass uns gehen«, wiederholte sie eindringlich und trat noch einen Schritt vor. Er wich vor ihr zurück, seine Miene verzog sich vor Furcht und Unwissenheit. Dann drückte er ab.
Es war, als spüre Sinao seine Bewegung vorher. Sie sah den hellen Schein in der Mündung aufglühen. Um sie herum verstummten alle Geräusche. Ihr ganzes Wesen war auf diesen einen Punkt gerichtet, das schwarze Loch mit dem feurigen Herzen, das ihr den Tod entgegenspie. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht schreien, nur dorthin starren. Angst durchflutete sie, eine animalische, urtümliche Todesangst. Sie brandete über sie hinweg, fegte alle Dämme zur Seite und fand irgendwo, tief in ihr, ein Reservoir.
Der Schuss dröhnte, und Sinao spürte einen Schlag an der Wange, wie eine Ohrfeige. Ich bin getroffen, dachte sie benommen und sah wieder die Bilder der Schusswunden vor sich, die Toten mit den Löchern in Brust und Kopf, den endlosen Strom von Blut auf dieser Insel. Sie taumelte einen Schritt zurück. Der Soldat sah sie entsetzt an, schrie und ließ seine Waffe fallen. Verwirrt sah Sinao, wie er sich abwandte und davonrannte. Ihre Finger fanden die Wange, erwarteten, Blut zu fühlen, zerfetztes Fleisch, Knochen, doch es tat nicht einmal weh.
»Schlecht geladen«, murmelte Bebe, der zu ihr trat und ihr Gesicht abtastete. »Nur ein Striemen.«
»Was?«
»Er muss schlecht geladen haben. Du hast da nur einen roten Striemen, wie von einer Knute.«
»Er … er hat mich getroffen«, erwiderte Sinao wie betäubt.
»Aber nicht richtig.«
»Die Ahnen haben dich beschützt«, warf Brizula ein. »Weil du tapfer bist und uns allen hilfst!«
Sinao brauchte eine Weile, um diese Worte zu verdauen. Sie fühlte ihren Körper nicht mehr, ihr Geist war von ihrem Leib getrennt, so als sei sie tot, doch sie atmete und dachte noch, wenn auch ihre Gedanken wirr und unzusammenhängend waren.
»Weiter«, drängte Bebe. Jemand anderes nahm an ihrer Stelle Dagüey auf, und die junge Paranao lief hinter der
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