Sturmwelten 01
Weg bereits unzählige Male gegangen und hätte die Treppe mit geschlossenen Augen hinabrennen können. Jede dieser Stufen hatte ihre eigene Zahl und damit ihren eigenen Namen, der sie unverwechselbar machte.
In der Küche war es wärmer als in den Gängen und Fluren, da die beiden großen, gusseisernen Öfen immer Wärme abgaben, selbst wenn sie gerade nicht befeuert wurden. Sie kühlten nie ganz ab, da eigentlich den ganzen Tag über gekocht wurde, um alle Bewohner der Festung und des Lagers zu versorgen. Zum Glück lagen die Lagerräume noch eine Etage tiefer, sodass ihre Kühle dafür sorgte, dass es nicht unerträglich heiß in der Küche wurde. Sinaos Begleiter begannen damit, die Kessel zu reinigen und das Abendessen für die Aufseher vorzubereiten, während das Mädchen die Körbe einsammelte und die Krümel daraus in einen Topf kippte.
Hinter sich konnte sie die leisen Stimmen der anderen Sklaven hören, doch sie zwang sich, nicht auf die Worte zu achten. Sie wusste ohnehin, worüber sie sprachen: die Neuankömmlinge, deren bevorstehendes Schicksal ihnen sattsam bekannt war. Es gab immer einige, die sich mit ihrer Situation nicht abfinden wollten, die sich gegen Tangye auflehnten. Und jedes Mal endete dieses Aufbegehren gleich. Einige wurden durch Peitsche und Stock gebrochen, andere durch Hunger und Durst, bis sie auf Knien um Gnade bettelten. Andere wurden getötet, von Soldaten mit ihren langen Musketen erschossen oder an den Balken des Forts aufgehängt.
Einmal hatte Tangye einen Mann zu Tode gepeitscht, mitten im Lager, zwischen all den Sklaven, bis man kaum noch erkennen konnte, dass er einst ein Mensch gewesen war. Einer zu Tode gepeitscht, fünf erschossen, zweiundzwanzig Gehenkte , zählte Sinao im Geiste auf. Vierundneunzig durch Krankheit, Hunger und Erschöpfung gestorben, verscharrt in sieben großen Gräbern hinter der Festung. Vier neue Schiffe, seit ich hier bin, mit zweihundertdreiunddreißig neuen Sklaven. Von diesem Schiff werden sie ein oder zwei erschießen, fünf oder sechs werden hängen, und drei- oder vierundzwanzig werden in den nächsten Wochen einfach so sterben. Sie wollte nicht daran denken, doch die Zahlen rasten durch ihren Geist.
»Hast du den Jungen gesehen, Sinao? Der Mister Tangye direkt angeschaut hat, als wolle er ihn beißen?«, fragte der alte Bebe, dessen schlurfenden Schritt sie über ihren Gedanken nicht gehört hatte.
»Den mit den finsteren Augen?«
»Ja. Brizula wettet eine Ration, dass sie ihn als Ersten hängen. Willst du mit…«
»Das ist widerlich«, unterbrach ihn Sinao und verzog den Mund vor Abscheu. »Er ist ein Mensch, genau wie du!«
»Ist er nicht! Er ist irgendein ungewaschener Affe! Er wird in die Minen geschickt. Ich bin hier in der Festung! Kein Minensklave!«
In seinem Gesicht zeigte sich Befriedigung darüber, ein selbstgefälliges Grinsen, das Sinao den Magen umdrehte. Sie ballte die Fäuste und hätte ihn am liebsten geschlagen. Natürlich war ihr Los besser als das der Arbeitssklaven, auch wenn sie direkt unter den Augen der Soldaten schuften mussten, doch Sinao war sich dennoch stets bewusst, dass sie eine Sklavin war. Keinen Moment des Tages, keine Sekunde konnte sie das vergessen. In ihrem Hals steckten finstere Worte, die hinausgeschrien werden wollten, aber sie schluckte sie hinunter und schüttelte den Kopf. »Ich wette nicht, Bebe.«
Langsam wandte sie sich ab und ging auf die Kellerluke zu. Ihr Zorn verflog so schnell, wie er gekommen war, und ließ nur dunkle Leere zurück, ein Gefühl des Verlusts, das sie sich nicht erklären konnte.
»Räum die Körbe weg«, befahl sie matt. »Ich bereite das Brot für abends vor.«
Damit öffnete sie die Luke, nahm eine der kleinen Talglampen und stieg hinab in die ewig kühlen Lagerräume.
Die Festung war auf den Felsen der Klippe erbaut worden, und die Männer aus den fernen Ländern jenseits des Ozeans hatten gewaltige Kavernen mit ihrem Schießpulver in den Stein gesprengt. In einigen davon lagerten die Vorräte der Soldaten: große Mengen von Pulver und Munition. Sinao war einmal heimlich dort gewesen und hatte die Stapel von dunklen Kanonenkugeln gesehen, die wie aufgetürmte Pyramiden in die Höhe ragten.
In diesen Kellern unter der Küche indes waren die kompletten Nahrungsvorräte gelagert. Es gab mehrere große Höhlen, die durch die Fässer, Ballen und Kisten zu einem wahren Labyrinth wurden. Eigentlich war es die Pflicht der Aufseher, sich um diese Vorräte zu kümmern,
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