Sturmwelten 01
gesprochen, Namen erfahren und Freundschaften geschlossen – aber das tat sie nicht mehr. Zu viele waren eines Tages nicht zum Essensappell erschienen, zu oft war sie hinausgerufen worden, um einer weiteren Hinrichtung beizuwohnen. Sie wollte die Namen derjenigen, die oben an den Festungsmauern im Wind schaukelten, nicht mehr wissen. Sie wollte nichts von ihren Familien hören, von ihren Ängsten und Hoffnungen. Ihre Gebete waren ohnehin erfüllt von den Toten und ihre Nächte finster genug.
»Wir fangen an«, befahl sie monoton und breitete die Decke auf dem Boden aus. Während Brizula in jeden Napf eine Kelle des zähflüssigen Eintopfs füllte, legte Sinao jedem anschließend ein Stück Brot darauf. Sie hielt den Blick fest auf ihre Hände gerichtet. Manchmal bedankte sich einer der Sklaven, dann nickte sie, sah jedoch nicht auf. In Gedanken zählte sie die verteilten Brote; am Ende des Abends würde sie wissen, wie viele Sklaven es im Lager gab. Es würden mehr als gestern sein, dank der Neuankömmlinge, aber ab morgen würden es mit jedem Tag wieder weniger werden, bis das nächste Schiff voller Unglücklicher in die Bucht einlief. Und so immer weiter, bis Sinao gar nichts mehr fühlen würde, weder Freude noch Leid. Wenn Tangye mich nicht vorher an einen der Balken hängt. Oder mich in die Minen schickt. Oder in die Baracken. Da sie darüber nachdachte, wusste sie nicht, was schlimmer wäre.
»Perka!«
Überrascht und ohne es zu wollen, sah sie auf. Obwohl sie die Sprache der früheren Herren nicht sprach, kannte sie das Schimpfwort, das Wort für Hure . Es war leise gezischt worden, nur für ihre Ohren bestimmt, und nun sah sie in die funkelnden Augen desjenigen, der es ausgesprochen hatte. Sie gehörten dem jungen Paranao, von dem Bebe behauptet hatte, dass er als Erster hängen würde. Stolz stand er da, hoch aufgerichtet, obgleich sein schlanker, kräftiger Körper schon die ersten Striemen trug. Sein Blick war von so viel Hass erfüllt, dass Sinao wieder zu Boden schaute. Wenn du dich nicht beugst, werden sie dich brechen.
Über ihren Rücken liefen kalte Schauer, während ihr gleichzeitig die Hitze ins Gesicht stieg. Zitternd griff sie nach einem Stück Brot und wollte es auf den Napf legen, doch der junge Paranao schleuderte seine Schale zornig auf sie. Mit einem Schrei sprang sie nach hinten, stolperte und stürzte zu Boden. Sie prallte mit der Hüfte auf den festgestampften Lehm, und einige Steine bohrten sich schmerzhaft durch den dünnen Stoff ihres Kleides in ihre Haut. Wütend fuhr sie herum. Durch ihre Haare sah sie sein selbstzufriedenes Grinsen und die vor der Brust verschränkten Arme. Brizula wird die Wette gewinnen , dachte sie noch, dann schrie eine wohlbekannte Stimme: »Was geht hier vor?«
Alle Sklaven kannten Tangyes Stimme, und sofort zogen sie ihre Köpfe ein. Wie eine Welle entfernten sie sich von Sinao und dem neuen Paranao und bildeten eine Gasse für Tangye, der mit wütenden Schritten auf sie zu stürmte. Eigentlich sollte der Mister gar nicht im Lager sein; die Aufseher kehrten abends zurück in das Fort und aßen dort. Aber das hatte man Sinao schon an ihrem ersten Tag erzählt: Tangye konnte Ärger riechen, und er spürte es, wenn er belogen wurde. Jetzt blieb er mit rotem Kopf vor dem Paranao-Jungen stehen und brüllte diesen an.
»Was geht hier vor? Antworte, du Kakerlake!«
Der Junge hielt immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt und sagte kein Wort. Seine mandelförmigen, schwarzen Augen waren unverwandt auf das Gesicht des Aufsehers gerichtet. Mit einem weit ausholenden Rückhandschlag schleuderte Tangye ihn zu Boden, dann zog der Aufseher seine gefürchtete Lederpeitsche aus dem Gürtel. Unvermittelt wurde seine Stimme leiser, fast freundschaftlich: »Ich wusste, dass du Unruhe stiften würdest, Kakerlak – ich kenne deine Art. Ich fürchte, für dich gibt es nur eine Lösung.« Er ließ die Peitsche auf die Gestalt des jungen Mannes sausen, der reflexartig einen Arm nach oben riss, um sein Gesicht vor der Wucht des Schlags zu schützen. Das Leder hinterließ eine blutige Spur auf dem Arm des Paranao.
Während der ganzen Zeit war Sinao am Boden geblieben und wagte es nicht, aufzusehen oder sich gar zu erheben. Der Junge würde sterben, ob hier zu Tode gepeitscht oder an die Mauer gehängt, das spielte keine Rolle mehr.
»Es war nicht seine Schuld, Herr. Ich habe mich vor einer Spinne erschreckt.«
Die Worte kamen wie von selbst aus ihrem Mund, flossen über
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