Sturmwelten 02. Unter schwarzen Segeln
eine gebildete Blassnase.
»Die Caserdote behaupten, die Vigoris käme von der Einheit. Bihrâds Volk sagt, sie kommt von den Sternen. Dein Volk glaubt, Anui habe ihnen die Vigoris geschenkt. Aber die Wahrheit ist: Keiner weiß es wirklich, alle glauben nur, es zu wissen.«
»Niemand weiß es?«
»Oh, vielleicht ist eine dieser Erklärungen wahr. Aber niemand kann es mit Sicherheit sagen. Man kann es nur glauben. Aber ich verrate dir das erste Geheimnis des Arsanums: Es ist gleich, was du glaubst. Die Vigoris wird dir gehorchen, ob du nun den Caserdote folgst, zu den Sternen betest oder zu den Zemi.«
»Woher weißt du von den Zemi?«, fragte Sinao verblüfft. Bislang hatten die Corbaner sich kaum für die kleinen Steingötzen interessiert, mit deren Hilfe die Paranao zu den Ahnen beteten.
Tangye und seine Leute hatten die Sklaven gezwungen, zu der Einheit zu beten und Anui und den Ahnen abzuschwören, doch man hatte sie nie gefragt, was sie eigentlich glaubten. So hatten die meisten wenig mehr als Lippenbekenntnisse geleistet und weiterhin die Ahnen um Rat und Hilfe gefragt, wie viele, viele Generationen vor ihnen es auch getan hatten.
»Ich habe einige Zeit auf einer Insel hier gelebt. Bei deinem Volk«, erklärte Manoel und nahm einen Zug aus seiner Pfeife. »Ich dachte, dort würde ich mehr über das Geheimnis erfahren. Seine wahre Natur ergründen können. In gewissem Sinne stimmte das auch: Ich habe gelernt, dass Glaube nicht Teil des Arsanums ist.«
»Sondern?«
»Die Vigoris ist einfach da, egal, woher sie kommt. Jeder, der ein gewisses Talent dafür besitzt, kann lernen, sie zu beherrschen. Ob nun Maureske, Paranao, Hiscadi oder sogar die verstockten Thayns. Nichts und niemand verwehrt einem den Zugriff, wenn man nicht glaubt. Ich weiß das.«
»Weil du nicht glaubst?«
Die Frage war ihr sofort in den Sinn gekommen, und sie hatte sie ausgesprochen, ohne nachzudenken. Jetzt sah sie, wie Manoels Miene sich kurz verdüsterte, und sie bereute sie sofort. Doch der Maestre nickte.
»Ja, auch weil ich nicht glaube. Nicht an die Einheit, nicht an die Sterne und auch nicht an die Ahnen. Es gab die Vigoris, bevor Corban von der Einheit predigte, und ich denke, es gab sie schon immer. Sie unterscheidet nicht nach Mann oder Frau, Greis oder Kind, Braun oder Weiß, Klein oder Groß, Reich oder Arm. In gewisser Weise ist sie gerecht, denn vor ihr ist alles gleich. Jeder, du, ich, alle dort unten. Und irgendwann wird sie dir gehorchen, so wie sie mir gehorcht.«
Er machte eine Pause, um wieder an seiner Pfeife zu ziehen. Dann fuhr er fort: »Sie ist gefährlich, wenn man nicht mit ihr umzugehen weiß, aber wenn man sie kennt, kann sie sehr … liebevoll sein.« Wieder lachte er kurz, als hätte er einen Scherz gemacht, den nur er verstand. Es war ein unbekümmertes Lachen, das im Gegensatz zum Ernst seiner Worte stand. »Wenn du willst, kann ich es dir beibringen. Ich kann dir zeigen, wie man die Vigoris nutzen kann. Du hast das Zeug dazu, das weiß ich, und du weißt es auch. Willst du?«
Sinao schwieg sechsundfünfzig Sekunden lang. Ihr Blick wanderte über den Boden, erfasste die Gräser und Blätter, zählte die Ameisen, die Tropfen, alles. Dann sah sie auf.
»Ja.«
JAQUENTO
Der Regen prasselte so laut auf das gewachste Leinenverdeck der Droschke, dass man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Nicht dass es notwendig gewesen wäre, etwas zu verstehen, denn weder er noch sein Gegenüber sprachen. Roxane Hedyn, außer Jaquento und seiner – meiner? – Echse die Einzige in der Kutsche, wich seinen Blicken standhaft aus, und ihre Miene war verschlossen und abweisend, wenn sie überhaupt einmal zu ihm hinüberschaute. Die Straßen waren uneben, und immer wieder wurden sie durchgeschüttelt, wenn ein Rad in ein tiefes Loch schlug.
Erfolglos versuchte Jaquento, der Situation etwas Gutes abzugewinnen. Sein Gegenüber verhielt sich, als sei er nicht mehr als eine zufällige Wegbekanntschaft. Immer wieder fanden Tropfen einen Weg ins Innere der Droschke, so dass er sich mittlerweile fühlte wie ein begossener Hund. Und ihr Ziel war der Sitz des Admirals der Sturmwelt, der sicherlich keine besonderen Sympathien für hiscadische Kapitäne hegte – vor allem, wenn sie es mit den strengen Gesetzen der Thayns nicht allzu genau nahmen. Nein, alles in allem ist die Situation gar nicht gut.
Nach einer durch den Regen mühseligen Fahrt hielt das Gespann schließlich vor einer weißen Villa mit strengen Formen.
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