Sturz in den Tod (German Edition)
von Jan und
drückte den Anruf weg.
Die »Finnlines« fuhr hinaus, mit nur vier Lastkraftwagen beladen.
Auf der »Passat«, dem historischen Segelschiff, standen ein paar Besucher an
der Reling. Nina ließ das Fernglas sinken. In zwei Stunden musste sie Frau
Bergmanns Wohnung im dreißigsten Stock geputzt haben. Neunzig Quadratmeter,
eine Eckwohnung im Maritim, mit überwältigendem Panoramablick vom sogenannten
Rundumbalkon aus über die Ostsee, die Lübecker Bucht, den Badestrand und die
Hafeneinfahrt.
Nina fuhr im Fahrstuhl mit Staubsauger und Eimer eine Etage nach
oben. Wie von den anderen vier Maritim-Bewohnern, für die sie zurzeit putzte,
hatte sie auch die Wohnungsschlüssel von Frau Bergmann, sie hingen seit Jahren
im Haus ihrer Mutter am Schlüsselbord.
Frau Bergmanns Wohnung war bis auf Küche und Badezimmer komplett mit
Teppichboden ausgelegt, auf dem ein paar kostbar wirkende Brücken lagen. Fast
alles war recht alt in dieser Wohnung, die Frau Bergmann und ihr Mann vor
achtunddreißig Jahren gekauft hatten. Noch bevor das Maritim überhaupt
fertiggestellt worden war, waren die meisten Wohnungen verkauft gewesen. Niemand
hatte damals vermutet, dass es so kommen würde. Nicht die Travemünder, die
erbittert gegen dieses Hochhaus mit fünfunddreißig Stockwerken kämpften, weil
sie es als architektonischen Schandfleck empfanden – und auch nicht
diejenigen, die damals ihre Häuser aufgeben sollten, damit das Maritim auf
ihren Grundstücken gebaut werden konnte. Selbst die Bauherren glaubten damals
nicht daran, dass man ihnen die teuren Wohnungen im Hochhaus förmlich aus den
Händen reißen würde, doch so war es dann gekommen. Bald wurden, obwohl sie nur
sechzehn oder neunzehn Quadratmeter groß waren, sogar die Kammern verkauft, die
auf jeder Etage als Wirtschaftsräume angelegt waren. Die Käufer bauten kleine
Pantry-Küchen ein, stellten ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl hinein, Hauptsache,
man hatte eine Bleibe in Travemünde – im Maritim. Auch Frau Bergmann hatte
einen solchen winzigen Raum dazugekauft, das Kinderzimmer .
Inzwischen waren ihr Sohn und auch dessen Tochter längst erwachsen, und das
kleine Apartment war zum Abstellraum geworden. Frau Bergmann hatte Ninas Mutter
schon vor Jahren erlaubt, ihre Putzsachen dort unterzustellen.
Nina schloss die Wohnung von Frau Bergmann auf. Die alte Dame war
wie immer ins dreißig Stockwerke tiefer gelegene Schwimmbad gefahren, das sie
als Wohnungseigentümerin genauso nutzen durfte wie die Gäste des in den unteren
Stockwerken untergebrachten Hotels.
Seit einigen Jahren lebte Frau Bergmann ständig hier und fuhr jeden
Morgen hinunter, um nach dem Schwimmen noch drei Saunagänge zu absolvieren und
sich auf dem Rückweg an der Rezeption der Residenz ein Mohnbrötchen abzuholen.
Wie auch ihre Mutter mochte Nina Frau Bergmann am liebsten von
denen, für die sie hier putzte. Das wöchentliche Ritual, vor dem Putzen
gemeinsam Tee zu trinken, war nie langweilig und außerdem als Arbeitszeit
bezahlt. Manchmal steckte Frau Bergmann ihr etwas mehr Geld als vereinbart zu
oder schenkte ihr Marzipan von Niederegger, niemals mit abgelaufenem
Verfallsdatum, wie andere ältere Leute es gern taten, sondern immer gerade erst
in dem schönen und teuren Niederegger-Geschäft in der Travemünder Vorderreihe
gekauft.
Dies alles entschädigte Ninas Mutter und nun auch Nina für das recht
schwierige Reinigen der Wohnung. Jede Menge Dinge standen auf Beistelltischchen
und Borden. Alles musste Nina beim Staubwischen anheben. Und Staub gab es Woche
für Woche reichlich. Er saß in den vielen dicken Teppichen, den Kissen und
Decken, die hier schon seit Jahren lagen. Nina spülte zuerst die Teegedecke ab
und räumte sie zurück zu dem übrigen Geschirr von Wedgwood. Fast alle
Silberbestecke im Schrank waren schwarz angelaufen. Vielleicht, überlegte Nina,
sollte sie Frau Bergmann vorschlagen, das Silber für sie zu reinigen. Doch so
selten, wie Frau Bergmann es benutzte, wäre es wohl bald wieder angelaufen.
Nina hob ein in Silber gerahmtes Foto von Frau Bergmanns Sohn als
kleinem Jungen hoch, dann eines von der Enkeltochter und eines vom verstorbenen
Ehemann und wischte darunter Staub. Auch unter den Blumentöpfen, den
Kerzenleuchtern, den kunstvollen Vasen und Schalen. Dann saugte sie und wendete
sich schließlich dem Balkon zu.
Nina wischte die Balkonmöbel ab, die Frau Bergmann in diesem Jahr
wohl kaum benutzt hatte. Zurück in der Wohnung, erschrak sie, als sie
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