Sturz in die Vergangenheit
Ehrenberg und das Leben im Mittelalter ganz allgemein.
„Weißt du, was ich nicht begreife?“, fragte er schließlich. „Du bist nicht gesund. Sie werden dich doch sicher auf der Burg nicht dulden. Warum also kehrst du zurück?“
„Oh, das tue ich gar nicht“, wurde er sofort belehrt. „Ich darf die Burg nicht betreten, nur den Bettelhof. Dort werden Almosen verteilt. Und wer weiß, vielleicht kann ich ...“, er brach ab, hob die Hand in einer verlegenen Geste und kratzte sich am Kopf.
„Vielleicht kannst du dort entlaust werden“, half ihm Matthias grinsend auf die Sprünge.
„Ein Bad wäre wirklich schön“, seufzte Gangolf, wechselte dann aber das Thema. „Sie bauen dort oben weiter und weiter. Es wird sich also einiges verändert haben. Trotzdem, ich denke, ich kann dir dabei behilflich sein, in die Burg zu gelangen.“ Er warf Matthias einen langen Blick zu. „Damit du wiederbekommst, was auch immer dir genommen worden ist.“
Der ließ einen Moment verstreichen, ehe er fragte: „Warum tust du das? Ich meine, du hast doch keinerlei Vorteil davon. Ganz im Gegenteil, du begibst dich sogar in Gefahr.“
Ein feines Lächeln huschte über Gangolfs schmutziges Gesicht. „Manchmal sind die Dinge anders, als sie scheinen, und die Gefahr wird von einem versteckten Vorteil überwogen.“
Damit wandte er sich ab und schritt schneller aus.
Es war schon skurril, auf die Silhouette der Burg zuzugehen, in deren Schatten Matthias – siebenhundert Jahre später allerdings – aufgewachsen war. Die ihm vertraut war mit sämtlichen Details, zu allen Tageszeiten. Nun ja, das eigentlich Skurrile war, dass er sofort die Unterschiede gesehen hatte.
Diese Burg war sichtlich noch im Bau und entschieden kleiner, als sie später sein würde. Einen der Türme gab es noch gar nicht, die beiden vorhandenen waren ein bisschen niedriger. Überall waren Holzgerüste zu sehen, auf denen es vor Männern nur so wimmelte. Matthias sah Träger, die an Stangen befestigte Lasten über einfache Leitern in schier schwindelerregende Höhen schleppten, Arbeiter mit Kellen, Helfer mit Kübeln.
Die Burgen auf den umliegenden Gipfeln, die das Bild, das er im Kopf hatte, komplettierten, fehlten noch ganz.
Sooft Matthias früher mit seinen Freunden rund um die Burg gespielt hatte, in seinem Leben hatte er Ehrenberg nur etwa eine Handvoll Male betreten können. Immer dann, wenn bei seiner Familie Besuch gewesen war, der sich einen Ausflug dorthin gewünscht hatte. Mit Touristenströmen waren sie dann durch die Repräsentationsräume geschleust worden, durch die historischen Schlaf- und Wohnräume der Grafen und Herzöge.
Matthias' Herz schlug schneller bei dem Gedanken, die Burg jetzt in lebendigem Zustand erleben zu können. Ohne Touristen und Absperrungen, ohne überquellende Parkplätze im Tal, die die Idylle schon auf den ersten Blick zerstörten.
„Bitte, könntest du ein bisschen langsamer gehen?“, holte ihn Gangolfs Keuchen neben ihm ins Hier und Jetzt zurück.
„Oh, klar, entschuldige.“ Matthias drosselte sein Tempo. „Es ist nur ... wie lange bleiben wir auf dieser Straße? Denn wir können kaum durch den Haupteingang hineinspazieren, oder?“
„Du könntest das sogar.“ Gangolf grinste schief unter seiner Kapuze hervor. „Aber es würde dir nichts nützen, weil du von dort aus nicht weiter in den inneren Burghof kommst. Besser, ich zeige dir den Stalleingang, den die Knechte mit den Mistkarren nehmen. Der Stall ist nämlich von beiden Burghöfen aus zu erreichen. Von dort kommst du leicht in den inneren.“
Diesen Weg, in den sie jetzt einbogen, kannte Matthias nicht. Und gleich in der Burg würde er noch jede Menge anderer Dinge sehen, die er noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Diese Welt, in der er sich in diesem Moment bewegte, musste demnach real sein, oder nicht? War das nicht der endgültige Beweis?
Andererseits ... hatte er eben viel Phantasie, sein Gehirn wäre sicher in der Lage, sich all das Unbekannte auszudenken. Und wenn das so wäre, wenn all dies seinem eigenen Geist entsprungen war und er jetzt noch keinen Schimmer hatte, was er sich ausgedacht haben würde, wenn er die Burg betrat – war doch eigentlich schlicht genial. Das, was er am Schreiben am meisten liebte, das Erschaffen neuer Welten, in Reinkultur.
„Du hast keine Angst, dass du es nicht schaffen könntest, nicht wahr?“
„Was?“, fuhr Matthias zu Gangolf herum. „Was meinst du?“
„Du wirkst gespannt,
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