Sturz ins Glück
Ein junges Mädchen saß auf einem Sofa in der Mitte des Raumes und errötete sichtbar, als ihr der junge Mann neben ihr ein Kompliment zuraunte. Ein etwas älteres Paar stand am anderen Ende des Raumes und unterhielt sich angeregt über die Landschaftsmalereien, die die Wände schmückten. Adelaide fiel auf, wie selbstverständlich die Frau ihre Hand in die Armbeuge des Mannes gelegt hatte. Der wiederum betrachtete die Frau liebevoll lächelnd.
Neid machte sich in ihr breit und sie wandte schnell den Blick ab. Unsicher legte sie ihre Hände in den Schoß. Es gab nichts Schrecklicheres, als die einzige alleinstehende Frau in einem Raum voller Paare zu sein.
Eine alte Zeitschrift lag neben ihr auf einem kleinen Tischchen. Sie griff danach und hoffte auf ein wenig Ablenkung. Ihre Augen bewegten sich mechanisch über die Seiten, doch die Worte nahm sie überhaupt nicht wahr. Sie würde sich einfach hinter der Zeitung verstecken, bis ihr Tisch frei war oder die Paare den Raum verlassen hatten. Was auch immer zuerst geschah.
Ihr Sessel stand so, dass sie einen guten Blick auf den Eingangsbereich des Restaurants hatte, wenn sie den Kopf ein bisschen drehte. Und sich ein paar Zentimeter zurücklehnte. Und ihren Fuß an einem Tischbein einhakte, damit sie nicht die Balance verlor, während sie auf der Stuhlkante hing.
Der Kellner warf nur ganz selten einen Blick in ihre Richtung, aber sie wollte bereit sein, damit er ihren besten, bedauernswertesten, bittendsten Gesichtsausdruck sah, wenn er sie doch einmal ansah. Er sollte sich schnell um ihren Tisch kümmern. Am liebsten wäre sie sofort wieder auf ihr Zimmer gegangen, aber das Schinkensandwich, das sie sich für die Zugfahrt gemacht hatte, war längst verdaut. Wenn sie den nächsten freien Tisch bekam, würde sie schnell wieder von hier fliehen können. Je schneller dieser Tag endete, desto eher konnte sie sich auf die Suche nach Henry machen. Dann wäre sie diejenige, deren Hand wie selbstverständlich auf dem Arm eines Mannes lag, der ihr bewundernde Blicke zuwarf. Jawohl. Sobald sie Henry gefunden hatte, würde alles besser werden.
„Einen guten Abend noch, Mr Belcher“, hörte sie den Kellner laut sagen. „Ich hoffe, das Essen war wie immer zu Ihrer Zufriedenheit?“
Mr Belcher? Adelaides Herz klopfte laut. Henry? Sie ließ die Zeitung in ihren Schoß sinken. Das Rascheln des Papiers verhinderte, dass sie die Antwort des Mannes hörte. Sie beugte sich weiter zur Seite und reckte den Hals, um einen Blick auf den Mann werfen zu können, doch eine Dame und ein kleiner Junge standen im Weg. Adelaide streckte sich noch weiter, da sie unbedingt einen Blick auf den Mann erhaschen wollte. Er schien die richtige Größe zu haben, seine Frisur sah der Henrys auch ähnlich und …
Das Tischbein, um das sie ihren Fuß gehakt hatte, drückte schmerzhaft in ihre Haut, doch wenn sie sich noch ein bisschen weiter nach hinten lehnen würde … nur ein ganz winziges Stück. Und sich jetzt noch ein bisschen zur Seite neigte …
Plumps.
Adelaide fand sich plötzlich in einem würdelosen Haufen von Kissen und Zeitungspapier auf dem Boden wieder. Mit knallrotem Gesicht sprang sie auf und versuchte, das Kichern des Mädchens zu ignorieren.
„Du liebe Güte! Geht es Ihnen gut, meine Liebe?“
Die Dame, die ihr eben noch die Sicht versperrt hatte, kam herbeigeeilt, um ihr zu helfen. Adelaide winkte rasch ab und zerknüllte die Zeitung in ihrer zitternden Hand.
„Es geht mir gut. Danke.“
„Nun, wenn Sie sicher sind …“
Sie nickte rasch. Genau in diesem Augenblick wandte sich der Mann um, den sie für Henry gehalten hatte.
Und tatsächlich – er war es. Als sie seine bekannten Züge sah, war ihre Erleichterung grenzenlos. „Henry! Sie sind es tatsächlich!“ Sie hatte ihn gefunden. Gleich an ihrem ersten Abend in dieser neuen Stadt. Gott hatte sie zu ihm geführt. Wie wunderbar!
Sie ging auf ihn zu, doch ihre Schritte wurden langsamer, als die Farbe aus seinen Wangen wich. Irgendwie hatte sie erwartet, dass sich sein Gesicht bei ihrem Anblick aufhellen würde und nicht, dass er erschrocken zurücktaumelte. Es musste der Schock sein, sie nicht in ihrem gewohnten Umfeld zu treffen.
„Miss Proctor, wie wunderbar, Sie zu sehen. Machen Sie hier Urlaub?“
Seine Stimme klang seltsam gezwungen, Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. Adelaide wusste nicht, was sie mit dieser Reaktion anfangen sollte. Er war sonst immer so selbstsicher und beherrscht gewesen. Hatte
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