Suche nicht die Suende
binden.
Aber sie sprach es nicht aus, weil sie plötzlich die Richtung ahnte, in die seine Gedanken gingen.
Und wirklich: »Vermutlich ist das es, was Liebe wirklich ist«, fuhr er mit einem verzagten kleinen Lächeln fort. »Aber du musst verstehen – manchmal ist sie von Feigheit nicht zu unterscheiden.«
Hierhin folgte sie ihm nicht. »Es ist Mut nötig, um zu lieben«, sagte sie. »Ich sehe keine Feigheit darin, sich einem Menschen verbunden zu fühlen.«
»Ja, vielleicht siehst du es so«, sagte er leise. »Ich werde dir eine Geschichte erzählen. Einen Teil davon kennst du. Als Kind hatte ich schreckliches Asthma.«
»Ja«, sagte sie langsam. Sie wusste es von Richard und natürlich auch von Alex’ Schwestern, die beständig befürchteten, dass die Krankheit aus Kindertagen bleibende Folgen zurückgelassen haben könnte. Gwen hatte diese Sorge nie verstanden: Alex war der vor Kraft strotzendste Mann, den sie kannte.
»Eine verdammt beschissene Krankheit«, sagte er unverblümt. »Ich wünsche sie niemandem. Worauf kann man sich verlassen, wenn man nicht imstande ist zu atmen? Und es gab keine erkennbaren Anlässe für die Anfälle. Ich wusste nie, wann meine Lungen streiken würden – in dem einen Moment ging es mir gut, und schon im nächsten lag ich lang hingestreckt auf dem Boden. Und dann gab es nur eine einzige Frage: Wo ist die Medizin? Manchmal war sie in meiner Tasche, und manches Mal erfüllte sie sogar ihren Zweck. Aber manchmal war sie auch fünfzig Meter weit entfernt – oder, schlimmer noch, nur wenige Zentimeter außerhalb meiner Reichweite – das Salpeterpapier und die Streichhölzer auf dem Tisch über mir, und ich starrte hoch, unfähig, auch nur meine Hand zu heben oder zu rufen. In diesen Momenten war meine einzige Hoffnung, dass irgendjemand … ein Hausmädchen vielleicht …
irgendjemand
vorbeikommen werde.«
Er holte tief Luft. »Ich erinnere mich –« Er atmete aus, und sie tat es auch, durch eine Kehle, die sich eng anfühlte. »Ich erinnere mich an diese Zeiten des Wartens«, sagte er leise. »An jede davon. Erstickend, als Kind hilflos. Ich war nicht ruhig, Gwen. Diese Kunst habe ich nie beherrscht. Ich war zu Tode erschrocken.«
Sie blinzelte und zuckte zurück, als sie eine Träne fallen spürte. Sie hob die Hand, wie um sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen, aber in Wirklichkeit wischte sie die Träne fort. Wenn er sah, dass sie weinte, würde ihm das gewiss nicht gefallen.
»Mir blieb keine Wahl, als von anderen abhängig zu sein«, sagte er.
»Ich weiß.« Ihre Stimme verriet sie. Sie klang zu rau.
Er sah sie an, seine hellblauen Augen schienen sie geradezu zu durchdringen. »Die Erinnerungen regen mich nicht auf. Vielleicht hätte ich das vorausschicken sollen. Ich teile sie auf die gleiche Art mit, wie ich dir irgendetwas Banales mitteilen würde. Nach einigen erschreckenden Vorfällen stellten meine Eltern jemanden darauf ab, mir auf Schritt und Tritt zu folgen. Von Zimmer zu Zimmer, vom Haus in den Garten, vom Garten ins Haus. Jemand drückte sogar sein verdammtes Ohr an die Tür der Toilette, um zu lauschen. Ich durfte nicht im Freien spielen, die Pollen hätten ja möglicherweise der Auslöser sein können. Keine Hunde, keine Pferde; das Fell hätte einen Anfall auslösen können. Andere Jungen in meinem Alter tollten herum; ich wurde in die Gesellschaft meiner Schwestern verbannt, und in die Gerards, wenn seine Selbstachtung es ihm erlaubte, mit einem Krüppel zu spielen.«
»Alex«, wisperte sie.
»Ich gebe nur das Wort wieder, das er benutzt hat«, sagte er gleichmütig. »Ich war mit diesen Einschränkungen natürlich nicht einverstanden. Doch all die Fürsorge hat die Anfälle auch nicht verhindern können. Und deshalb begannen die Ärzte zu spekulieren, das Asthma könnte eine Folge meiner schwachen Nerven sein. Ich wurde nach Heverley End geschickt. Keine Menschenseele weit und breit. Meine Eltern hofften, dass die Abgeschiedenheit dort sowie ein strikter Tagesplan mich heilen würden. Man ging täglich mit mir spazieren. Ich wurde gefüttert und unterwiesen und unterrichtet, gewaschen und zu Bett gebracht. Während dieser Zeit war ich zehn oder elf. Ich kam mir vor wie ein Tier, angebunden an eine Kette. Aber zumindest fühlte ich mich sicher. Es bestand kein Risiko, dass mich ein Anfall überraschte, allein auf dem Boden, nur Zentimeter von der Medizin entfernt. Alles, was mich schmerzte, war der Abscheu vor mir selbst. Ich war
froh
,
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