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Suche nicht die Suende

Suche nicht die Suende

Titel: Suche nicht die Suende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meredith Duran
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ebenso anstarrte wie sie ihn. »Mrs Ramsey braucht wohl kaum eine Eskorte, wenn sie mit ihrem Ehemann reist.«
    Als Kind hatte Alex all die lehrreichen Märchen über böse Hexen und die schönen Prinzessinnen gehört, die entführt, eingesperrt und in einen Zauberschlaf versetzt wurden. Prinzessinnen, die von bösen Nadeln gestochen wurden; Prinzessinnen, die sich hinter Dornenhecken wiederfanden; Prinzessinnen, die mit Apfelstückchen vergiftet wurden. Bis zu diesem Morgen war ihm niemals aufgefallen, dass bei vielen dieser Prinzessinnen das Bemerkenswerte die Art war, auf die sie einschliefen und wieder aufwachten. Hätte man ihn auf ein solches Muster hingewiesen, so hätte er ohne Zweifel darauf aufmerksam gemacht, dass diese Frauen ausnahmslos von den Händen oder den Lippen eines zwar widerlich demütigen, ansonsten aber ganz passablen Prinzen geweckt worden waren – und dass das Aufwachen an sich als deutliche Metapher dafür stand, dass sich der Prinz vermutlich gut aufs Vögeln verstanden hatte. Genau genommen,
dass
er sich gut darauf verstanden hatte, wie es in den weniger verbrämten Versionen stand, die in alten französischen Texten zu finden waren.
    Aber nach diesem Morgen würde Alex nie mehr fähig sein, solche Geschichten mit seinem gewohnten Zynismus zu betrachten. An diesem Morgen hatte er Gwen Maudsley aus dem Schlaf aufwachen sehen, und daran war in der Tat etwas Zauberhaftes gewesen. Er hatte neben ihr gesessen, seine Gedanken waren unerklärlich ruhig gewesen, und er hatte beobachtet, wie sie allmählich aufgewacht war. Zuerst hatte sich eine leichte Röte auf ihren blassen Wangen gezeigt, dann ein Zucken ihrer Wimpern, gefolgt von einem leisen Seufzen, dessen Ausatmen ihr dunkelrotes Haar bewegte. Sie erwachte zum Leben wie ein Wesen aus einer Welt, die viel süßer und weniger grausam war als irgendeine sonst, zu der er je gereist war. Das verschlafene Streichen ihres Handrückens über ihren Mund hatte ihre Lippen gerötet. Als sie sich dann bewegt hatte, hatte ihr Duft die Luft um ihn herum erfüllt.
    Er hätte sich selbst verspottet, wäre er es nicht leid gewesen, stets über das zu spotten, was andere ernst nahmen. Natürlich war es einfacher, sich zu mokieren, aber andere Leute hielten sich damit zurück, und das nicht immer nur deshalb, weil ihnen die Fantasie oder der Humor fehlten, dessen der Spott bedurfte. Manchmal hielten sie sich einfach darum zurück, weil sie sich trauten, sich nach etwas zu sehnen, das nicht leicht zu greifen war. Etwas, das einem davonschlüpfte, wenn man ihm nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte – einen andächtigen Respekt, von der Art, die einen dazu brachte, an einem Grab den Hut abzunehmen, oder den Kopf vor Soldaten zu neigen, die in den Krieg zogen – selbst wenn man die wohlgenährten Lords verfluchte, die sie in den Tod schickten. Nicht alles im Leben war für den Spott geeignet. Oder auch für das Lachen. Aber es war schwerer, die andächtigen Momente zu sehen, wenn sie nach Lachen statt nach Tränen verlangten. Tränen standen für das Ende.
    Das Lachen konnte für den Anfang stehen.
    Er hatte Gwen beim Aufwachen beobachtet, und er hatte sich gedacht, dass er keine Ahnung hatte, welche Art von Anfang er ihr bieten könnte. Als sie ihm dann das Gesicht zugewandt und er es mit der Hand leicht berührt hatte, hatte er nur eines darin gesehen: dass er ganz gewiss ein Ende erreicht hatte, als er ihr in London wiederbegegnet war.
    Auf dem Bahnsteig dann, als die hämische Spinatwachtel mitsamt dieser Harpyie von Schwester dort aufgetaucht war und auf Gwen eingehackt hatte, war er überzeugt gewesen, die Antwort gefunden zu haben: Was eine schlafende Prinzessin brauchte, war eine heldenhafte Rettung.
    Offensichtlich war diese Antwort falsch.
    »Bist du
verrückt
geworden?«, fragte Gwen herausfordernd, als sie im Zug nach Mailand saßen. Allmählich wurde er Züge leid. Und wenn er Gwen so ansah, ging es ihr vermutlich ähnlich. Sie wanderte in einem kleinen Kreis im Abteil herum, dann trat sie gegen die Tür, und ihre Lippen bebten, als sie sich ihm zuwandte. »Also wirklich, Alex, hast du deinen Verstand verloren? Vor zwei Tagen wolltest du nicht mit mir … und jetzt sind wir angeblich schon verheiratet!«
    Er ließ sich auf die Matratze zurückfallen und bedeckte die Augen mit dem Arm. Er hatte sein wöchentliches Maß an Sorge und Besänftigung aufgeregter Weiblichkeit bereits erschöpft. »Es scheint wahrscheinlich«, sagte er.

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