Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Teppich, als Hauptnahrungsmittel und Droge.
VERRÜCKTHEITEN
UND ANDERE FREUDEN
ELEGANT REISEN
»You, Mister!«, wie ein Tomahawk landete der Satz in meinem Rücken. Ungerührt ging ich weiter, ich hieß nicht You Mister , ich wollte nicht gemeint sein. »You, Mister!«, der zweite Tomahawk sauste. Aber auf geheimnisvolle Weise landete er sanfter, wie ein Versprechen. Gegen alle Gewohnheit drehte ich mich um, und da stand er, zehn Schritte weit weg, lieb, bauchig, lächelnd.
»My name is Sandy, please come in!« Sandy, der Schneiderladen-Besitzer und Lockvogel. Da ich in Paris lebe, habe ich den absoluten Blick für schlecht sitzende Männerhosen. Erbarmungslos zoomte ich auf des Verführers Nähte, das verräterischste Zeichen für Schluder und Unbegabung. Aber sie saßen, Sandy trug ein Meisterwerk, beruhigt trat ich ein.
»Entweder man hat eine gute Figur oder einen guten Schneider!«, sagen sie in Manhattan. Ich befand mich gerade in einer Seitenstraße von Bangkok und wusste plötzlich, dass nur noch vierundzwanzig Stunden fehlten, bis ich endlich ungeniert über die Fifth Avenue flanieren durfte. Ich fand ein sexy Grau, blätterte im L’UOMO , dem italienischen Modemagazin, das lässig herumlag, fand den schönsten Mann und legte den Finger auf seine römischen Schultern: »This one, please!« Der Herrliche trug einen Zweireiher, der in Bälde mir gehören sollte. Sandy, ganz unaufgeregt: »Good choice, let’s do the fitting.«
Während der Master Tailor behände alle Gliedmaßen abmaß, fluteten ein paar Bilder durch meinen Kopf. Auf geheimnisvolle Weise schienen sie dafür mitverantwortlich, dass ich jetzt vor einem Spiegel stand und elegant aussehen wollte. Vor zwei Tagen hatte ich mich noch in Phuket befunden, einem der inoffiziellen Open-Air-Puffs Thailands. Kurz zuvor hatte (auch) hier der Tsunami den Strand verwüstet. Ich war angereist, um einen vermissten Freund zu suchen. Dreihundert Meter und sechsunddreißig Stunden von der Verwüstung entfernt hatte sich die Spaßguerilla schon wieder erholt. Disco-Pop dröhnte und viele (weiße) Dicke führten ihre nackten Ranzen spazieren, während neben ihnen – Händchen haltend mit den Massigen – die einheimischen working girls stöckelten.
Allmächtiger, was las man nicht in der Presse über das männliche Geschlecht, das sich nun sputete, die Frauen in Sachen Body-Wahn einzuholen. Dass auch Männer angefangen haben, weltweit Hundert-Millionen-Beträge in die Verschönerung ihrer Oberfläche zu investieren. Mag alles stimmen, aber hier war dieser Trend noch nicht ausgebrochen. Man wollte die Nonchalanten fast beneiden um die Mühelosigkeit, mit der sie ihren Wanst in der Öffentlichkeit vorführten.
Als ich am nächsten Nachmittag ein zweites Mal den Master’s Shop verließ, war ich das, was die Manhattaner einen »sharp dresser« nennen. Der Zweireiher saß wie aufgebügelt. Lang lebe Sandy, er zieht Männer an, er verschönert die Welt.
BILANZ EINES LOSERS
Kundar sagte fürsorglich: »Achtung, Betrüger in der Stadt.« Der Satz fiel in Asien, aber er passt zu jedem Erdteil. In seiner Stadt, so berichtete der Germanistik-Student, näherten sich Männer einem Ahnungslosen und versprachen listig: »Komm mit, ich habe eine Schwester, die in deinem Land studiert.« Und manövrierten das Opfer an einen Ort, wo sie dem freudig Erregten versprachen, die Wartezeit mit einer Tasse Tee (voll Schlafmittel) zu verkürzen. So lange verkürzen, bis der arme Teufel geplündert wieder aufwachte.
Der umsichtige Kundar, ach seine vergebliche Fürsorge. Denn bei den hiesigen Temperaturen würde mir bisweilen die Konzentration verloren gehen, würde ich auf so manchen Filou hereinfallen und so manchen Heiligen übersehen.
Trotzdem, an vielen Stellen war ich unverwundbar. Unverführbar. Denn auf Reisen kaufe ich nichts, nur Essen und Trinken, nachtweise ein Bett, investiere in Schmiergelder für den Schaffner, um einen letzten Sitzplatz zu erhalten, verwende woanders die Scheine zur Erpressung, erpresse Storys, kaufe zwei Bustickets und lasse nur einen Zeitgenossen neben mir Platz nehmen, der verspricht, eine Geschichte zu erzählen. Immer will ich Vergängliches einkaufen, nie Souvenirs, nie ein Ding, das man schleppen muss, das behütet, abgestaubt, ja, bewacht werden muss. Nie habe ich ein Eigenheim besitzen wollen, nie einen Quadratmeter Land, nie eine »Immobilie«, nie etwas Unbewegliches. Meine Andenken, meine Erinnerungen sind virtuell, mehr oder
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