Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
strahlenden Vollmond. Keiner wachte zuverlässiger über meine Schlaflosigkeit. Frühmorgens erreichten wir Pusan, die Hafenstadt. Ich wollte an Bord, wollte rüber nach Japan.
Beim Gedränge vor der Passkontrolle fiel mir ein Mann auf. Er drängelte nicht. Mittelgroß, kurze Haare, ein grauer Überwurf mit einer Schnur als Gürtel, die nackten Füße in den Sandalen. Sein heiteres, intelligentes Gesicht, in der linken Hand hielt er ein Bündel, sein Gepäck. Asiaten sehen immer jünger aus, als sie sind. Ich vermutete Mitte dreißig. Ich ließ ihn nicht aus den Augen.
Nach dem Abendessen, wir waren bereits unterwegs, sprach ich ihn an, bat ihn an meinen Tisch. Ohne Zögern nahm er Platz und stellte sich mit dem Namen Sota vor. Über Kioto wollte er zurück in die Staaten, in Vermont leitete er einen »Sangha«, ein buddhistisches Zentrum. Er sprach gleichmütig, ohne Prätention, erzählte vom Tagesablauf im Kloster, von der strengen Disziplin. Dann verstummte er, blickte hinaus auf die See, deren Wellen heftiger wurden. Die Ober verteilten Tüten an die Passagiere. Irgendwann sagte der Mönch: »Nicht reden tut gut«, Pause, Geduldspause, dann: »Der Weg ist das Ziel.«
Uff, die Kalendersprüche des Meisters. Meine Begeisterung flaute ab. Die Phrasen hätten von Paulo Coelho stammen können, der als orientalischer Klosterbruder vermummt aus dem Schatzkästchen seiner innig gehorteten Albernheiten plauderte. Musste man sieben Stunden täglich meditieren, um das herauszufinden? Dass nicht reden guttut? So gut eben wie bisweilen reden. Weil im rechten Moment den Mund aufmachen heilen kann und schweigen das Leid nur vergrößert. Was für ein esoterisches Geraune, was für ein Gehabe, Sätze loszulassen, die – auf den Kopf gestellt – nicht minder stimmten. Ach – noch furchterregender – das Gesülze vom »Weg als das Ziel«. Tausend Mal nein. Hält einer, bitte, einmal inne und hängt den Satz in die Höhe, hoch genug, um ihn in seiner ganzen Dümmlichkeit zu betrachten.
Ich war vor zwei Monaten von Europa hierher gereist, weil ich ein Ziel hatte, weil mein Kopf vor Sehnsüchten platzte, die er leben wollte, weil ich bestimmte Männer und Frauen treffen wollte, weil mich – es ging mir schlecht, ich suchte einen Ausweg, ich suchte einen Beruf – nichts anderes trieb, als ein Ziel zu finden, das ich imstande war zu erreichen. (Und dann das nächste, und dahinter wieder eins.) Ich wollte zielen und treffen. Mich nicht immer – wie bisher – ziellos auf den Weg machen, den berühmten, der kein Ziel haben soll. Ja, zugegeben, auch ich hatte diesen Nonsens nachgeleiert. Geistlos, ergriffen, beeindruckt vom ätherischen Weihrauch, mit dem der Satz daherkam. Was für ein Merkspruch für Nieten, die nie dort eintreffen, wo sie eigentlich – hinter all dem erhabenen Dusel, mit dem sie ihre Halbherzigkeiten rechtfertigen – eintreffen wollten.
Dem röchelnden Herzkranken in einer Ambulanz, die im Stau nicht weiterkommt, rufe ich beschwingt zu: »Don’t worry, relax, nicht das Krankenhaus ist das Ziel, nein, der Weg dorthin!« Und dem Aids-Verseuchten klopfe ich generös auf die Schulter: »Hey, Abkratzer, du lernst es auch nicht! Nicht das Medikament ist wichtig, sondern die vielen Jahre zu seiner Entdeckung!« Und dem nächsten Hungerspecht, dem ich in Afrika begegne, will ich eine Lektion erteilen: »Mensch, Skeletti, genieße den Weg zur Hirsesuppe! Sie wird kommen oder nicht, Hauptsache, du bist unterwegs!« Und der Fünfundzwanzigjährigen, die sechs Jahre als Bedienung jobbte, um sich ihr Medizinstudium zu finanzieren, schreibe ich nach dem verfehlten Examen einen Trostbrief: »Liebe Adele-Bernadette, lass los! Auch Kellnern kann schön sein, auch dort wird deine Buddha-Natur knospen und gedeihen!«
Nichts als die reine Idiotie. Der Röchler will sein Herz zurück, der Infizierte sein Immunsystem, der Afrikaner ein Gefühl von Sattsein und die Durchgefallene hasst Bierkrüge schleppen und will als Ärztin ihr Geld verdienen. Sie alle, ohne Ausnahme, machten sich auf den Weg, um ans Ziel zu gelangen. Ohne ein Ziel wären sie nicht losgegangen. Das Ziel ist das Ziel. Jetzt stimmt der Satz.
Nicht um ein Jota anders bei mir. Ich war nach Asien aufgebrochen, weil ich noch immer nicht wusste, was aus mir werden sollte. Ich fuhr noch in einem Alter Taxi, in dem andere bereits ihre Vorfrührente verhandelten, hatte den Job (und mich) jede Nacht widerwärtiger gefunden, hatte bereits in zehn anderen Berufen
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