Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Rettung und Hingabe. Im Ernst. Das Kaff war ein viereckiger Alptraum, ein in Beton gegossener Pavianarsch. Schon der Anblick von so viel Hässlichkeit forderte geistlichen Zuspruch.
»Reverend« Donald drückte mich mit beiden Armen an seine vergoldete Brust. Die Geste hatte etwas Väterliches, sogleich beschloss ich, nie nein zu sagen und alles zu glauben, was man mir in dieser lauen Floridanacht einredete.
Mister Donald fragte nach meinem Namen, presste mir seinen rechten Daumen gegen die Stirn und jagte einen fliegenden Monolog ins Mikrofon. Ich sollte nachsprechen, sollte allen seinen Wörtern hinterherjagen. Der Lautsprecher krächzte in die Stille: »Oh Lord, erhöre uns, hier steht einer vor dir, der zu Buße und Umkehr bereit ist, endlich bereit ist für ein keusches und sauberes Leben!« Wie recht Donald hatte: »We are all sinners!« Ich nickte demütig, wollte jedes Wort beherzigen, das auf mich niederging. Wieder einmal fühlte ich diese Sehnsucht nach einem Beschützer, einem Allbarmherzigen, eben jenem, der die Richtung zeigte und alle Last nahm.
Bis der Teufel kommandierte, plötzlich. Mittendrin merkte ich, dass ab sofort heiligmäßige Selbstbeherrschung gefordert war. Weil jetzt die unbändige Lust zu lachen ausbrechen wollte. Weil die alten Bilder zurückkamen. Schon fünf Mal war ich in den Staaten getauft worden und jedes Mal wollte ich rein und anders werden. Und jedes Mal ging es daneben. Vielleicht hätte ich diesmal stillgehalten, hätte Duong, der Vietnamese, der Donald beim Sündenvergeben aushalf, nicht gesagt: »This is the leal thing.« Jetzt rettete nur noch Lippenbeißen. Um 0.37 Uhr, direkt neben der Highway One , war es so weit, ich schallte hinaus: »I let Jesus enter into my heart«, schloss die Augen und wiederholte den Treueschwur, den die beiden mir feierlich vorsprachen, war stark bis zum allerletzten Satz, bis: »You are saved now in Dschissassss!« Aber dann war kein Halten mehr und wir drei, ja wir drei, wimmerten glückselig in die Nacht. Oh, heiliger Schwachsinn.
REISEN UND LESEN
Am Pool eines feinen Hotels, irgendwo im Süden Thailands. Für einen Dollar pro Tag durfte man hier stundenlang schwimmen, ja lesen und rauchen. Reisen ist schön, aber mittendrin anhalten ist auch schön. Lesen auf Reisen ist vielleicht noch freudespendender als Lesen in gewohnter Umgebung. Irgendein Gefühl kommt dazu – das Flair der Fremde? –, das den Genuss an klugen Gedanken vertieft. Vielleicht ist es das beschwingte Bewusstsein, weit weg zu sein von der Fadheit des Alltags? Lesen dürfen, ohne dabei von dem Gedanken gefoltert zu werden, hinterher einkaufen und als dreizehnter Kunde an einer Aldi-Kasse zuschauen zu müssen, wie Lebenszeit zuschanden geht. Für bekennende Flüchtlinge gleicht Lesen in sicherer Distanz einem Zustand, der jeden kleinen Superlativ rechtfertigt. Ich lese, also bin ich. Ich lese in weiter Ferne, also bin ich – glücklich.
Ich saß im Liegestuhl, las ein Buch, ein halbes Dutzend Magazine, zuletzt einen Zeitungsartikel, der von einem eher trostlosen Zustand sprach. Aber brillant sprach. Wie viele, die Sprache lieben, tröstet mich die Eleganz eines Textes über den Inhalt hinweg. Nichts anderes auf Erden als die Sprache erinnert ausdauernder daran, dass Schönheit imstande ist zu heilen. Zu mildern allemal.
Die Journalistin musste die Kolumne unter Tränen verfasst haben. Die thailändische Buchindustrie, so war zu erfahren, boomte. Aber lediglich dank dem schriftlich niedergelegten Geschnatter einer Ex-Miss, dank den Erinnerungen eines bekannten Schauspielers, der schon mehrmals durch seinen beachtlich niedrigen Intelligenz-Quotienten landesweit auffiel, und dank – auf ewig – dem Cartoon Die Geschichte von Tongdaeng . Er beschrieb den Lebensweg des Lieblingshundes von König Bhumipol, 700 000 verkaufte Bücher in den ersten zwei Wochen. Die Journalistin notierte: »All das zeigt den augenblicklich oberflächlichen Geisteszustand in unserem Land.« Tonnenweise gingen Lachen und Weinen und Liebesmärchen über den Ladentisch. Alles ging, solange die Realität nicht vorkam.
Egon Erwin Kisch, Urvater der modernen Reportage, meinte einmal: »Nichts ist phantastischer als die Wirklichkeit.« Für den Satz würde er heute ausgepeitscht, das tatsächliche Leben interessiert nur noch eine Minderheit. Heiß sind: Träumen, Flucht, Trance, Fantasy, Zauberlehrlinge, Batman, Shrek, Blödeln, der unbedingte Wille, der Wirklichkeit aus dem Weg zu gehen. So
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