Süden und das Geheimnis der Königin
glaube, er sprach von einem Vetter. Der Vetter aus Dingsda, der zu Besuch kam. Aus Dingsda in Italien. Werden Sie Soraya doch noch finden? Nach all den Jahren? All den leeren Jahren?«
»Wir versuchen es«, sagte Martin. Dünne Rinnsale überzogen das teigige Gesicht des alten Mannes. Er behielt die Klinke in der Hand und sah uns hinterher. Dann schloss er die Tür, und wir blieben auf der Treppe stehen und blickten nach oben. Auf der Straße warfen wir, weil der Himmel voller Wolken war, keinen Schatten.
10
I m Büro der Spedition Claudius Singer in der Verdistraße türmten sich Umzugskisten, die Schränke waren ausgeräumt, und auf dem Tresen stapelten sich Aktenordner.
»Das ist vielleicht ein komisches Gefühl, dass wir jetzt selber umziehen«, sagte Leila Marie, die Sekretärin, eine fleischvolle Frau um die fünfzig, deren Silberarmbänder unentwegt klirrten.
»Sind ja bloß ein paar hundert Meter, aber ein Trara ist das, ich glaub, bei unseren Kunden geht’s schneller als bei uns.«
Sie gab mir ein DIN-A-4-Blatt.
»Das hab ich kopiert, bei uns hat ein Herr Grosso gearbeitet, ich hab mich dann auch erinnert, ein netter Mann war das. Franz hieß der aber nicht richtig, sondern Francesco, weil der war ja Italiener. Hat man aber nicht gemerkt, der hat perfekt deutsch gesprochen. Aus dem Friaul war der, aus Tissano, da steht’s.«
»Haben Sie das Foto nicht in der Zeitung gesehen?«, fragte Martin.
»Was für ein Foto?« Er zeigte es ihr.
»Wer ist das?«, fragte sie.
»Franz, Francesco Grosso.«
»Den hätt ich nicht erkannt. So genau kann ich mich nicht mehr erinnern, aber so hat der damals nicht ausgeschaut, der war viel dicker früher, also nicht dick, aber dicker als auf dem Foto.«
»Hatte er Kontakt zu seinen Verwandten in Italien?«, fragte ich.
Leila nahm einen Anruf entgegen, notierte sich Termine, rief einen der Fahrer in einem Transporter an und vereinbarte mit ihm eine Route.
Martin und ich sahen aus dem Fenster in den Hof, wo Lastwagen rangierten und Männer Kisten verluden. Sicher dachte auch Martin an nichts als an den alten Mann in seiner weißen Wohnung, an den Flur, durch den wir gegangen waren und der vermutlich dem in der früheren Wohnung glich, auf der einen Seite das Leiden, auf der anderen das Lieben, und heute auf jeder Seite Stille und Abwesenheit.
»Hab ich Ihnen helfen können, die Herren?«, fragte Leila.
»Danke«, sagte ich.
Von draußen winkte Martin Leila Marie zu, und sie winkte lächelnd zurück.
»Ich würd gern mit ihr ausgehen«, sagte er auf dem Weg zum Auto.
»Dann frag sie!«
»Wenn wir zurück sind«, sagte er. Bevor ich mir klar darüber war, hatte er bereits eine Entscheidung getroffen.
»Willst du ihn anzeigen?«, fragte Martin.
»Wegen Vergewaltigung, wegen Verführung, wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen?«
Ich schwieg. Wir saßen in einem schäbigen Lokal an der Leonrodstraße, einem heimischen Herd für ausweglose Trinker. Niemand beachtete uns, die wenigen Gäste, die an der Theke saßen, hatten uns augenblicklich ohne Worte zu ihresgleichen erklärt. Wahrscheinlich waren wir das auch. Ausweglos. Zumindest ich. Ich hatte Zement auf der Zunge, das Bier schmeckte mir nicht, der abgestandene Rauch, der in der Kneipe hing, verursachte mir Brechreiz.
»Was ist?«, fragte Martin.
Ich ging auf die Toilette. Im abgeschabten Spiegel sah mich ein abgeschabtes Gesicht an. Was war mit mir? Was hatte die Geschichte des alten Mannes in mir ausgelöst? Was? Ich kam nicht drauf. Vorher nicht und jetzt nicht. Auf dem Weg von seiner Wohnung ins Büro hatte ich kein Wort gesprochen und die Fragen, die Martin mir stellte, vergaß ich sofort. Danach hatten wir die Vernehmungen durchgeführt, dann waren wir zur Spedition und wieder zurück ins Dezernat gefahren, um einen Bericht zu tippen, eine vorläufige Zusammenfassung unserer Erkenntnisse über den Toten aus der Bruchbude. Pflichtarbeiten, das Übliche. Nebenher ein paar Sätze mit Freya Epp und Sonja Feyerabend, ein Termin bei Volker Thon, der fragte, ob es notwenig sei, dass wir beide ins Friaul fahren würden, und ob man nicht eine Reise sparen könne. Ich war mir nicht sicher, ob wir überhaupt fahren sollten.
Natürlich wollte ich Emanuel Roos nicht anzeigen. Natürlich verurteilte ich sein Tun, seine Haltung und seine Überzeugung. Was mich in einen Zustand rabiaten Selbstzorns versetzte, war, dass ich ihn nicht verstand. Ich verstand nicht, wie die Liebe, von der er redete wie andere
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