Süden und das Geheimnis der Königin
antwortete nie. Er schrieb weiter Briefe. Solche sind so. Sie hatte ihn erfahren, das genügte ihr. Sie wartete auf mich. Und ich wartete auf sie. Das war das Lieben. Und wenn wir in der Kirche saßen, sonntags, und die Fürbitten sprachen, schlossen wir uns in unsere Gebete mit ein.«
»Auch Ihre Frau?«, fragte ich und spuckte das Knäuel aus Stummheit endlich aus.
»Nein«, sagte Roos. Zum ersten Mal hob er den Kopf. Er keuchte, und ich bemerkte, dass seine Augen nass waren.
»Sie verbat uns, für sie zu beten. Das war nicht richtig. Das ist nicht gottgefällig. Als unsere Tochter zur Firmung ging, bat mich meine Frau, meine Tochter freizugeben. Sie sagte ›freigeben‹. Und ich ging zu Soraya und fragte sie, ob sie mir erlaube, sie freizugeben. Und sie sagte, wenn sie dies erlaube, würde sie sterben, und sie wolle nicht sterben. Sondern leben. Am Leben sein. Und das sagte ich meiner Frau.«
Er rieb die Finger der einen Hand und wischte sich mit der anderen über die Augen.
»In der Kirche wurde sie ohnmächtig. Wir brachten sie hinaus. Sie kam bald wieder zu sich. Das waren die Tabletten. Der Arzt sagte, sie müsse ins Krankenhaus, sie wollte nicht. Sie wollte zu Hause bleiben. Wie ich sagte: Sie zog das Leiden vor, das gnadenlose Leiden. Ich wollte es ihr ersparen, Soraya wollte es ihr ersparen, sie blieb ja bei uns wohnen, und wir verbrachten große Jahre, Soraya und ich.«
»Waren Sie auf andere Männer eifersüchtig?«, sagte Martin.
Für diese nüchterne, einfache, logische Frage würde ich ihm noch in zehn Jahren dankbar sein. Ich stand bloß an der Tür, bis zum Scheitel angefüllt mit moralisch wertvollem Gedankengut, und kam mir zugleich wie eine Fußnote zu einem abgelaufenen Jahrhundert vor. Ich wollte den Finger heben und »Aber!« sagen. Doch etwas in mir brach in hämisches Gelächter aus, vermutlich das Monster, dessen Zähmung vermutlich eine unserer Bestimmungen in diesem Leben ist.
»Eifersucht«, sagte Roos.
»Eifersucht. Eifersucht ist doch kein hohes Gefühl! Eifersucht ist ein Zeichen von Unfreiheit, Schwäche. Ich redete mit den Männern, haben Sie das vergessen? Ich nahm ihre Briefe in Empfang, ich spendete ihnen Trost. Wen Soraya in ihren Hofstaat aufnahm, blieb ihr überlassen, ich redete ihr doch nicht drein! Nie. Ich lebte in Demut…«
»Hat nie jemand etwas bemerkt?«, fragte Martin. Der Oberkörper des dicken Mannes kippte nach vorn und verharrte. Dann stemmte Roos wieder die Hände auf die Sessellehnen und wuchtete sich in die Höhe. Er röchelte. In seinen Augen sammelten sich Tränen.
»Möchten Sie ein Glas Wasser?«, fragte Martin. Roos reagierte nicht. Er ging zum Fenster, schob wie schon einmal die Gardine beiseite, blickte zu den Häusern gegenüber und stöhnte leise.
»Was denn bemerkt?«, sagte er und sah weiter nach draußen.
»Was bemerken die Leute denn von den großen Dingen? Was denn? Nichts. Sie puzzeln ihren Alltag zusammen und wundern sich abends nicht einmal, dass nichts passt. Meine Tochter und ich, Soraya und ich, das ist außerhalb. Das sehen die nicht. Dafür reicht ihr kleines Schauen nicht.« Er drehte sich um.
Ich sagte: »Sie haben Ihre Tochter als vermisst gemeldet, weil Sie sie zurückhaben wollten.«
»Warum denn sonst?«, sagte er.
Warum denn sonst?, hallte ein Echo in mir. Warum denn sonst?
»Wenn Sie uns das alles früher erzählt hätten, hätten wir Ihre Tochter vielleicht finden können«, sagte Martin.
»Meine Frau wollte es nicht«, sagte Roos. Er kam auf mich zu.
»Sie wollte es nicht. Und Sie haben sie nicht durchschaut, Sie merkten nicht, wie schwer es ihr fiel, das nicht zu wollen.«
»Nein«, sagte Martin.
»Das ist Ihnen verziehen«, sagte Roos. Jetzt stand er vor mir, sein rechter Arm schlenkerte vor und zurück, nichts an ihm verriet, was er vorhatte. Ich trat einen Schritt zur Seite und öffnete die Tür.
»Danke«, sagte er und hielt mir die Hand hin. Aus seinen Augen flossen vereinzelt winzige Tropfen.
»Ihr Besuch war angenehm, jetzt möchte ich weiterhin allein sein. Auf Wiedersehen.«
Ich gab ihm die Hand.
»Sind Sie aus Pirmasens weggezogen, weil es Gerüchte über Ihre… Liebe gab?«
»Ist das wichtig?«, fragte er.
»Nein«, sagte ich.
Martin stand auf, sortierte seine Papiere und klappte den Ordner zu.
»Ich glaube«, sagte Emanuel Roos, während wir hinter ihm durch den Flur gingen, »ich glaube, dieser Italiener war ein Verwandter von Franz Grosso. In diesem Moment fällt es mir ein. Ich
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