Süden und das Geheimnis der Königin
sprechen«, sagte ich.
»Warum nicht?« Sie trank einen Schluck Mineralwasser und warf einen schnellen Blick auf den Computer. Dann sah sie mir auf gewisse Weise streng in die Augen, die ebenso grün waren wie ihre. Anscheinend steuerte sie unwiderruflich auf einen Disput zu, und ich stand unwiderruflich auf.
»Ich will es nicht«, sagte ich und zog meine Lederjacke an und knöpfte mein Hemd bis zum Kragen zu.
»Ist Ihnen kalt?«, fragte Sonja.
»Nein.«
»Warum wollen Sie über dieses Thema nicht sprechen?«
»Ein andermal«, sagte ich.
»War es Missbrauch?«, fragte sie. Eines Tages, das ahnte ich in diesem unpassenden Moment, würden wir mehr gemeinsam haben als das Grün unserer Augen.
»Nein«, sagte ich.
»Was war es dann?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Warum weichen Sie mir aus?«
»Weil da mehr Platz ist«, sagte ich und ging zur Tür.
»Ich komm übrigens mit ins Friaul«, sagte Sonja.
»Eine Bekannte von mir war dort, in einer umgebauten Villa, sie sagt, das ist ein idealer Ort zum Ausspannen.«
»In Tissano?«, fragte ich.
»Ja. Sie und Martin bekommen sicher auch noch ein Zimmer in der Villa. Um diese Zeit.«
»Sie können doch gar nicht weg«, sagte ich.
»Wir sind kurz vor der Aufklärung«, sagte sie.
»Frau Gebauer ist bei ihren Verwandten, die stellen sich noch etwas an, was ich verstehen kann. Aber ich schätze, dass wir morgen, spätestens übermorgen mit der Frau und ihrer Tochter sprechen können. Und wenn ihr was zugestoßen ist, häng ich die Jugoslawen hin, ich finde Zeugen, die vor Gericht aussagen werden, dass ihr Freund sie misshandelt hat.«
»Viel Glück!«, sagte ich.
»Süden?«
Ich kam aus dem Büro nicht hinaus.
»Wenn wir im Friaul sind, möcht ich wissen, was der Vater Ihnen erzählt hat«, sagte sie. Ich sagte: »Sie sind doch dann im Urlaub.«
»Werden Sie nicht kindisch!«
Kaum hatte ich die Glastür im Treppenhaus erreicht, kam Freya Epp hinter mir hergelaufen.
»Die Kollegen aus Udine haben ein Foto gemailt!«
»Du schon wieder mit deinen Fotos!« Ich störte ihn beim Dichten. Nebenher hörte er ein Klavierkonzert.
»Kennst du diesen Mann?«
Ewald Sturm ging zum Fenster. Sein Zimmer wurde nicht gerade von Licht verwöhnt.
»Könnt sein«, sagte er.
»Gib dir Mühe, Wolfi!«
»Wie heißt der?«
»Das ist der Mann, mit dem Soraya nach Italien gegangen ist.«
Im ersten Augenblick dachte ich, ich hätte mit dieser Bemerkung einen Fehler gemacht. Wolfi legte alle Verachtung, zu der er fähig war, in eine Grimasse und schnippte mit dem Finger auf das Bild. Dann hielt er es mir wortlos hin.
»Du kennst ihn«, sagte ich.
»Ich hab ihn mal gesehen«, sagte er.
»Das ist ein Unterschied, verstehst?« Er setzte sich wieder an den Tisch, der aus einer Spanholzplatte bestand, die auf zwei Holzböcken lag. Wolfi schrieb auf einen Zeichenblock, umgeben von Zetteln, Briefen, Wörterbüchern und Gedichtbänden. An die Platte war eine Lampe geklemmt, deren Licht dürftig auf die Verse fiel.
»Weißt du, wie er heißt?«
»Keine Ahnung, Mann.«
»Er heißt Severino Aroppa.«
»Und sonst?«
»Habt ihr euch damals gestritten?« Wolfi beugte sich über den Block.
»Du nervst. Ich kenn den nicht, und jetzt hau ab! Ich muss arbeiten.«
»Geht’s voran?«
»Nein.«
»Für wen ist das Gedicht?«
»Für einen Mann, der achtzig wird, seine Enkel wollen ihm was Besonderes schenken, verstehst?«
»Du schreibst also ein Erbschleichergedicht.«
»Verzieh dich!«
»Kannst du dich erinnern, wo dieser Aroppa damals gewohnt hat?«, fragte ich.
»Nein.«
»Denk nach, Wolfi!« Er schrieb ein Wort hin, strich es durch, nahm einen anderen Kugelschreiber, notierte auf einem Zettel das Wort »Gnädigkeit« und schlug ein Lexikon auf.
»Was ist Gnädigkeit?«, fragte ich.
»Bleib du bei deiner Polizei!«, sagte Wolfi.
»Ich dachte nur, es heißt Gnade.«
»Bleib du bei deiner Polizei!«
Das hätte ich nicht für möglich gehalten, dass Verseschmiede sich erst ein Wort ausdachten und dann im Lexikon nachschlugen, ob es existiert. Vielleicht arbeitete auch nur Wolfi so.
»Was reimt sich auf Gnädigkeit?«, fragte ich, da ich von der Nutzlosigkeit ungereimter Erbschleichergedichte überzeugt war.
»Geht dich das was an?«, fragte Wolfi. Ich sagte: »Zum Glück nicht.«
Während er über einem Reim grübelte, hörte ich dem wundervollen Konzert zu. Für einen wie mich, dessen Staunen für die Bilder und Briefe von Vincent van Gogh nicht ausreichte, klang diese
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