Süden und das Geheimnis der Königin
von anderen Lieben, möglich war. Ich konnte nicht glauben, dass ein Kind aus einem Gefühl völliger Freiheit heraus sich seinem Vater hingab. Ich konnte es nicht verstehen. Und doch ahnte ich, dass es möglich wäre. Das erhabene Wesen von Soraya Roos. Ich kannte sie nicht. Was bedeutete es, einem Menschen mit einem erhabenen Wesen zu begegnen? War das Selbsttäuschung? Waren das Worte, die man für sich erfand, um sein Handeln zu rechtfertigen? Emanuel Roos rechtfertigte sich nicht. Er beichtete nicht. Er wollte keine Schuld loswerden, er legte kein Geständnis ab.
Im abgeschabten Spiegel der Toilette sah mich ein abgeschabtes Gesicht an, und mir blieb nichts als weiter hinzusehen. Meine Haare waren zu lang und zu ungepflegt, ich hatte mich seit drei Tagen nicht rasiert, ich hatte Ringe unter den Augen, ich sah aus wie ein auswegloser Trinker, der sich einbildete zu sprechen, dabei sprudelten die Worte nur in seinem Innern, tief in der Finsternis. Ich hatte Zement auf der Zunge und würde vielleicht nie wieder sprechen.
Minute um Minute stand ich da, bemühte mich um gesellschaftskonforme Wut und staatsdienerhaftes Empfinden auf hohem ethisch-korrekten Niveau. Und scheiterte. Und scheiterte, je länger ich dastand, scheiterte mehr bei jedem neuen Gedanken an Emanuel Roos, stemmte die Arme gegen den Spiegel, presste die Hände auf das klebrige Glas, die beiden Gesichter berührten sich fast, und ich war das immer noch. Ich war derselbe, der ich heute Morgen und gestern und schon immer gewesen war. Und ich fing an, die Liebe des alten Mannes zu seiner Tochter zu erahnen. Und dieses Ahnen ängstigte mich so wenig, wie es mir Freude bereitete, es war nur ein Verstehen, dem ich noch nicht gewachsen war.
»Wo bleibst du so lange?«, fragte mich Martin, als ich mich ihm gegenüber auf die Fensterbank setzte, vor mein schal gewordenes Bier.
»Wir reisen nach Tissano«, sagte ich.
»Wir müssen die Frau finden.«
»Glaubst du, sie lebt noch?«
»Ja«, sagte ich.
»Weil du es dir wünschst«, sagte er.
»Ja«, sagte ich.
»Weil du mit ihr sprechen musst.«
»Ja«, sagte ich.
»Weil du ihr zuhören musst, so wie du ihrem Vater zugehört hast.«
»Ja«, sagte ich.
11
N ach immerhin drei Wochen bekamen Martin und ich den Reisekostenantrag unterschrieben zurück. Karl Funkel, der Leiter des Dezernats 11, war in Urlaub gewesen, und Thon verweigerte die Genehmigung.
»Das ist Geldverschwendung«, sagte er.
»Wir hauen doch das Geld, das wir sowieso nicht haben, nicht zum Fenster raus, wenn die Kollegen vor Ort das genauso gut erledigen können.«
Ich sagte: »Das können sie nicht.«
»Weil sie Italiener sind?«, sagte Thon tatsächlich.
»Sie kennen den Fall nicht«, sagte ich mit simulierter Gelassenheit.
»Wir haben den Namen des Toten, die Kollegen werden den Namen seines Cousins herausfinden, dann reden sie mit ihm und dann werden sie uns mitteilen, was dabei herausgekommen ist. Dann sehen wir weiter.«
»Wir müssen trotzdem hinfahren«, sagte ich.
»Ich unterschreibe den Antrag nicht.«
»Dann warten wir, bis Karl zurück ist«, sagte ich.
»Anstatt dass du uns alle von der Arbeit abhältst, solltest du dich um einen Dolmetscher kümmern, und ich kümmere mich mit Sonja weiter um die Gebauer-Sache. Der Jour fixe ist beendet.«
Vor einer Woche waren Mutter und Tochter Gebauer verschwunden, die Frau zwanzig, das Kind zwei Jahre alt. Es gab Hinweise, dass die Frau sich und das Kind umbringen wollte. Die Familie des Kindsvaters stammte aus dem ehemaligen Jugoslawien, und welche Rolle der Vater bei der Vermissung spielte, war noch nicht geklärt. Anscheinend hatte er seine deutsche Freundin wiederholt misshandelt, seine beiden Brüder bestritten dies jedoch. Gegen einen von ihnen lief eine Anzeige wegen schwerer Körperverletzung, er hatte betrunken einen Taxifahrer zusammengeschlagen, weil er glaubte, dieser habe das Taxameter manipuliert. Für Sonja bedeutete dieser Fall einen Höchstaufwand an Disziplin. Außerhalb ihres Dienstes empfand sie für bestimmte Männer nichts als Abscheu, und jene Bosnier zählten vollständig dazu. Nachdem ich mit Unterstützung einer Dolmetscherin, die öfter für die Polizei arbeitete, die Kollegen in Udine um Amtshilfe gebeten hatte, dauerte es zehn Tage, bis diese uns mitteilten, sie hätten einen Vetter von Francesco Grosso ermittelt, sein Name sei Severino Aroppa. Dieser sei aber momentan verreist, und niemand im Dorf Tissano wisse, wo er sich aufhalte. Die
Weitere Kostenlose Bücher