Süden und das grüne Haar des Todes
Übergewicht lag. Gabelsberger war ein gedrungener Mann mit kleinen blauen Augen und schmalen Brauen. Seine ganze Erscheinung glich seinem Anorak: unauffällig und grau. Wenn man ihm auf der Straße hinterhersah, schien er sich schon nach wenigen Metern in der Farbe des Asphalts aufzulösen.
Ich mochte ihn vom ersten Moment unserer Begegnung an. Er gehörte zu den Menschen, wegen denen ich möglicherweise – allen Rückschlägen, Niederlagen, Todesfällen und sinnlosen Bemühungen zum Trotz – weiterhin Polizist geblieben war, in diversen Abteilungen und schließlich zwölf Jahre in der Vermisstenstelle, wo mich manche Kollegen einen »Schicksalsversteher« nannten. Dabei habe ich bis heute kaum etwas weniger verstanden und nachempfinden können als das Schicksal, in dessen Gehege ich mir manchmal vorkam wie die Hauptfigur in der Fiktion eines drogensüchtigen Tyrannen.
Wenn mir in den Jahren, die ich als Hauptkommissar im Dezernat 11 verbracht habe, etwas klar geworden ist, dann, warum manche Menschen einen Schatten werfen und andere von Schatten verfolgt werden .
Während jene einfach ihr Leben führen, ganz gleich, wie störrisch und bösartig es ihnen begegnet, und den Weg gehen, den sie ihren Schritten zumuten, bis zum Ende, nicht ständig im Überschwang, doch immer mit geraden Schultern und vorzeigbarem Gesicht, verharren die anderen seit ihrer frühen Zeit in gebückter Haltung, verwirrt vom Trubel der Geräusche und Stimmen um sie herum und vom Geröll ihrer Gedanken, von dem sie innerlich verschüttet werden. Ihnen bleibt nichts, als sich mitschleifen zu lassen, manche halten durch bis zum Ende, und manche wundern sich nur noch über ihre Erdbeständigkeit.
»Würd es Ihnen was ausmachen, wenn wir rausgehen?«, sagte Konstantin Gabelsberger. »Hier drin ist es so leer, finden Sie nicht?«
»Ja«, sagte ich.
Er schaute mich verwundert an .
Vor dem Haus setzte sich Gabelsberger auf die weiße Bank unter dem Fenster, das zur Straße ging. Ein Palisadenzaun grenzte das Grundstück vom Bürgersteig ab .
Jeder von uns dreien hielt einen aufgespannten Schirm, Martin einen gelben, Gabelsberger einen weißen und ich einen orangefarbenen.
Wir bildeten ein narzissenbuntes Trio angesichts des Regengraus.
»Bitte!«, sagte Gabelsberger, wischte die Sitzfläche ab und drückte sich an die Seitenlehne der Bank, damit noch Platz für Martin und mich blieb .
Ich sagte: »Ich stehe lieber.«
Martin setzte sich und hielt seinen Schirm schräg. »Wem gehört die Jeansjacke an der Garderobe?«, fragte er .
»Verona. Vermut ich.«
»Wer ist das?«
»Ein junges Mädchen, das manchmal für Babett Besorgungen macht.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«, fragte Martin .
Gabelsberger schüttelte den Kopf und senkte ihn wieder .
Martin stand auf. »Ich geh zu den Nachbarn, mit denen haben Sie ja auch noch nicht gesprochen.«
Das hatte uns Gabelsberger im Dezernat erzählt, bevor wir ihn davon überzeugen konnten, dass wir keine Fahndung einleiteten, ohne vorher Informationen aus dem Bekanntenkreis der Verschwundenen einzuholen. Die Begründung, wieso er sich nicht bei den Nachbarn, die auf demselben Grundstück wohnten, nach Babette Halmar erkundigt hatte, klang fast wörtlich so wie die im Zusammenhang mit Verona.
»Die mag mich nicht, und ich mag sie, ehrlich gesagt, auch nicht besonders.«
»Aber Frau Halmar mag das Mädchen«, sagte ich .
Den Schirmstiel zwischen Schulter und Wange geklemmt, öffnete Martin einen der Fensterläden an einem zweiten grünen Gebäude, das wie ein Schuppen wirkte und ein paar Meter entfernt im rechten Winkel zum Haus stand .
Ich sagte: »Ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Aber erschrecken Sie bitte nicht.«
»Das kann ich nicht versprechen«, sagte Gabelsberger und stützte eine Hand aufs Knie, während er mit der anderen unbeweglich den Schirm festhielt .
»Frau Halmar hat bestimmt ein Testament gemacht«, sagte ich.
Gabelsberger starrte vor sich hin. Ich sah, wie Martin den Fensterladen schloss, sich in meine Richtung drehte und den Kopf schüttelte. Dann ging er zu dem neu gebauten weißen Haus mit den großen Fenstern im hinteren Teil des Grundstücks.
»War das Ihre Frage?« Gabelsberger hob den Kopf und blinzelte wieder, diesmal wegen des Regens, der ihm ins Gesicht wehte .
»Ja«, sagte ich. Wir schwiegen.
Nach einer Weile sagte der graue Mann mit leiser Stimme: »Wenn sie eins gemacht hat, dann hat sie mich darin nicht bedacht, das weiß ich.«
»Woher wissen
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