Süden und das grüne Haar des Todes
holte. Ich sprach ihn nicht darauf an. Es war kurz vor zwölf Uhr mittags, und wir waren im Dienst. Ich sprach ihn schon länger nicht mehr darauf an. Was unsere Kollegin Sonja Feyerabend, die meine Freundin war, unverantwortlich und feige fand.
Aber die Beziehung zwischen Martin und mir ließ sich so wenig durch Ratschläge von außen beeinflussen, wie mein Freund, mit dem ich meine Kindheit und Jugend geteilt und der mich zur Polizei gebracht hatte, auf meine Bitten und Beschwörungen reagierte. Solange er seine Arbeit bewältigte, hielt ich mich mit Vorwürfen zurück. Und wenn wegen seines Trinkens oder seiner nächtlichen Aushäusigkeit Probleme entstanden, versuchte ich sie an seiner Stelle zu beseitigen. Darüber redeten wir nicht.
Ich verschwieg ihm meine Angst, die sein Anblick manchmal in mir auslöste, sein aschiges, erloschenes Gesicht, seine zersplitterte Stimme, sein ausgezehrter Körper, die Aura unerreichbarer Abwesenheit, die ihn umgab und die ihm bewusst und egal war. Statt ihn anzuschreien, schrie ich allein in meinem Zimmer. Statt ihn in den Arm zu nehmen, trommelte ich auf meinen Bongos. Und ich wusste, alles andere hätte ihn nur noch weiter fortgetrieben.
Ich weiß es bis heute. Und im gleichen Maß bilde ich mir bis heute ein, ich hätte seinen Tod verhindern können, zumindest die Art seines Todes, wenigstens das .
»Ich war gestern noch bei Lilo«, sagte Martin und schüttelte die Hand mit dem brennenden Streichholz. »Die Geschäfte laufen nicht gut zurzeit.« Er inhalierte den Rauch vollständig und zupfte Tabakkrümel von der Unterlippe.
Ich sagte: »Warum eine Reisetasche und nicht wie üblich den Koffer?«
Von den Nachbarn im Neubau auf dem Grundstück hatte Martin erfahren, dass Babette Halmar bei ihren Reisen einen beigen handlichen Koffer mit ausziehbarem Griff und zwei kleinen Rädern benutze und nur bei größeren Einkäufen ihre grüne Reisetasche. Nach mehrmaligem Nachfragen gelang Martin die ungefähre Festlegung des Zeitpunkts, an dem die alte Frau – offensichtlich, um zu verreisen – ihre Wohnung verlassen hatte .
»Seit etwa drei Wochen haben sie sie nicht mehr gesehen«, sagte ich.
»Sie behaupten, sie wären fest davon ausgegangen, dass sie an diesem Wochenende zurückkommt«, sagte Martin und schlug eine Seite seines Notizblocks um .
»Warum?«
»Angeblich bleibt sie nie länger als drei Wochen weg.«
»Sie ist aber nicht verreist«, sagte ich. »Nichts in ihrer Wohnung deutete darauf hin. Sogar ihr Knirps hängt an der Garderobe.«
»Sie kann ihn vergessen haben«, sagte Martin .
»Nein.«
Nach einiger Zeit, während der ein junges Paar hereinkam und sich auf die lange Holzbank in der Mitte des Raumes setzte, sagte Martin: »Ja. Und sie hätte ihre Lebensmittel aufgegessen oder mitgenommen und die alte Milch weggeschüttet.«
Davon war auch ich überzeugt. Genauso wie davon, dass eine Zeitspanne von drei Wochen im Fall einer abgängigen dreiundsiebzigjährigen Frau etwas nicht bedeutete: Anlass zur Beruhigung.
Von den rund eintausendfünfhundert Vermissungen, die wir durchschnittlich jedes Jahr zu bearbeiten hatten, entfiel bei den Erwachsenen die Mehrzahl auf Fälle von Selbstmord oder Klinikentweichungen. Da wir bei Babette Halmar bisher keine Hinweise auf verwirrtes Verhalten oder sonstige Auffälligkeiten hatten, mussten wir aller Erfahrung nach von einer Straftat oder einem tödlichen Unfall ausgehen. Glückliche Wendungen wie jene in der Akte des zweiundsiebzigjährigen Gabriel Sebald gehörten zu den absoluten Ausnahmen: Der Rentner war an einem Wochenende im März von seiner Frau als vermisst gemeldet worden, weil er mehrere Stunden nicht nach Hause gekommen war und sie ihn an all den Orten, die er trotz seiner schweren Magen- und Herzkrankheit aufsuchen konnte, nicht angetroffen hatte. Ihren Vermutungen zufolge, die von den Aussagen des Hausarztes, den Sonja und ich befragten, eher untermauert als entkräftet wurden, lag der Mann nach einem Herz- oder Schlaganfall irgendwo hilflos im Freien. Obwohl Maria Sebald die Lieblingsplätze ihres Mannes – an der Isar nahe der Museumsbrücke, rund um den St.-Anna-Platz – bereits abgeklappert hatte, verbrachten wir in der Nacht zum Sonntag mehrere Stunden dort und klingelten an Häusern. Niemand hatte den gebückt gehenden weißhaarigen Mann mit dem Krückstock gesehen. Am nächsten Morgen wollten wir gemeinsam mit fünf Kollegen dieselben Strecken noch einmal kontrollieren, als Maria Sebald im
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