Süden und das heimliche Leben
Ungeniert beschimpfte er, in Gegenwart eines tschechischen Kollegen, die Sekretärin aus dem reichhaltigen Fundus seines V- und F-Wörter-Wortschatzes, bevor er Süden fragte, ob dieser Angst vor einem Erdbeben habe.
»Nicht im Moment.«
»Wieso stehen Sie dann so verkrampft im Türstock?«
Die Tür war nur noch ein ausgefranster Durchgang. Süden roch die Ausdünstungen des kalten Gemäuers, den Mörtel, den Zement, das morsche Holz, das von der Sonne erhitzte Metall. Er wartete, bis Mohns Kollege durch eine Tür, deren Türstock ebenfalls herausgerissen war, in den Nebenraum ging. Mohn stand reglos im Flur, in einer grauen, mit unzähligen Taschen besetzten Latzhose, einem blauen, schmutzigen T-Shirt und grauen Turnschuhen, in denen er barfuß war.
»Ich suche nach Ilka Senner, Sie waren mit ihr befreundet. Helfen Sie mir, sie zu finden.«
Mohn drückte seine Zigarette in der Blechdose aus, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Sie stören mich bei der Arbeit. Ob die Alte verschwunden ist, interessiert mich ungefähr so viel, wie wenn in Grönland ein Eskimo ausrutscht. Ist noch was?«
»Beschreiben Sie mir die Ilka, aus Ihrer Sicht.«
»Aus meiner Sicht? Aus meiner Sicht …« Die Beschreibungen, die folgten, würde Süden nicht ins Protokoll aufnehmen. Er hörte zu und wunderte sich, dass er nicht auf den einundfünfzigjährigen, schmächtigen Mann mit dem mienenlosen, verhärteten Gesicht zutrat, in Atemnähe vor ihm stehen blieb und ihm einen Maulkorb verpasste.
Was Mohn über seine Ex-Freundin erzählte, klang wie die Tirade eines jahrzehntelang gehörnten Ehemanns, dessen Frau ihm bei der Scheidung nicht nur seine gesamten Ersparnisse abgeluchst, sondern auch seinen Penis verknotet hatte. Die rabiaten Äußerungen des Fliesenlegers bildeten einen grotesken Gegensatz zu der Art, wie er sie vorbrachte – ohne Zornesgesten, ohne geifernden Unterton, ohne mimisches Begleitfeuerwerk. Nur seine Augen strahlten eine arktische Verachtung aus, die, wie Süden vermutete, nicht nur Ilka Senner betraf. Der Mann beschimpfte die Welt an sich. Nach zwei Minuten verstummte er und nickte ein paar Mal.
Süden wartete, bis die Luft zur Ruhe gekommen war, dann warf er einen Blick in das leere Zimmer rechts von ihm. »Der Estrich ist getrocknet.«
»Das ist Trockenestrich, Sie Superexperte«, sagte Mohn. Er wandte sich zum Durchgang, durch den sein tschechischer Kollege verschwunden war. »Tschicko!«, schrie er. »Hau rüber, du Penner, weiter geht’s.« Er machte eine Kopfbewegung, Süden solle Platz machen, und zwängte sich an ihm vorbei nach draußen. Süden folgte ihm.
»Was ist passiert, dass Sie so über Ilka reden, Herr Mohn?«
»Was passiert ist? Was passiert ist? Was passiert ist, hab ich grad erklärt, die Alte ist eine blöde Sau, das ist passiert.«
»Ilka ist keine blöde Sau«, sagte Süden.
»Kennen Sie sie? Ha?«
»Ich kenne sie nicht, ich suche nach ihr.«
»Wenn Sie sie kennen würden, würden Sie nicht so daherreden. Diese Frau spielt Ihnen Tag und Nacht was vor, von morgens bis abends, die ist nicht echt, kapieren Sie das nicht? Die gibt’s in echt nicht, die Alte, die lügt dich voll und denkt, du merkst nichts. Ich bin kein Mülleimer, wo eine Frau ihren Dreck reinwirft. Hat die von mir gedacht, dass ich so einer bin. Mit der bin ich fertig. Wenn die mir noch mal über den Weg läuft, schneid ich ihr mit dem Papageienschneider ein zweites Loch in den Arsch. Ist das deutlich? Hab ich mich so ausgedrückt, dass Sie das schnallen?«
Süden schwitzte in der prallen Sonne. Er musste gehen, durch die Schatten der Häuser, in eine unbestimmte Richtung. Unterwegs sein, still, abseits allen menschlichen Gebells.
Obwohl er eigentlich kein Wort mehr verlieren wollte, sagte Süden: »Sagen Sie zum Abschied noch etwas Freundliches über Ilka Senner.«
»Sind Sie taub, Meister?«
»Sagen Sie das einzig Nette, das Ihnen zu Ilka einfällt.« Für diesen Satz schämte sich Süden fast.
»Keine Chance, Meister.«
Süden schwieg. Tschicko tauchte unter dem Baugerüst auf, in der einen Hand einen blauen Plastikkasten mit Zangen, einem Fliesenschneider, einem Fugenbrett, einem Hammer und einer Menge sonstigem Werkzeug, in der anderen eine Wasserwaage. Georg Mohn sah Süden an, dann schüttelte er den Kopf und blickte zur Straße.
Ein etwa dreijähriger Junge, der ein rotes Baseballkäppi trug, trippelte mit seinem pedallosen Holzfahrrad vor seiner Mutter her auf die andere
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