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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Straßenseite. Nach vorn gebeugt, legte er sich wie ein Rennfahrer ins Zeug. Auf dem Trottoir fuhr er einfach weiter, ohne auf die Rufe seiner Mutter zu achten.
    »Angeblich«, sagte Mohn und ging zu seinem Kollegen, »hätt sie gern ein Kind mit mir gehabt. Aber das ging dann nicht, weil sie will nämlich nicht schuld an einem Kind sein. Ist die Alte blöd oder ist die Alte saublöd? Viel Spaß bei der Suche.«
    Süden sagte: »Hätten Sie auch gern ein Kind mit ihr gehabt?«
    »Ich hab schon eins, der Bub lebt bei seiner Mutter. Und jetzt schleich dich, das ist eine Baustelle, für Unbefugte Zutritt verboten.«
    Süden blieb stehen, bis die beiden Männer im Haus verschwunden waren. Schweiß lief ihm übers Gesicht. Er schwankte ein wenig, und sein Herz hatte keinen guten Rhythmus.
    Manchmal, dachte er, reichten fünfunddreißig Jahre Menschentraining im Mord- und Vermisstendezernat nicht aus, um nach der Zeugenschaft bei einem nicht strafbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit dienstbeflissen in den Alltag zurückzukehren.
    Manchmal, wie jetzt, ging er durch die Straßen und fischte aus jedem Gesicht einen stinkenden Blick.
    Einmal, vor vielen Jahren, hatte er seinen besten Freund und Kollegen Martin Heuer mitten in einer polizeilichen Vernehmung gepackt und auf den Boden geworfen, weil er dessen Selbstgenügsamkeit nicht mehr ertrug.
    Manchmal war Süden froh, dass er, seit sein Freund nicht mehr am Leben war, niemanden hatte, dem er sein inneres Toben offenbaren konnte.
    Am Nachmittag dieses vor Sonne überschäumenden vierten Juli vermisste er Martin Heuer maßlos.

[home]
    4
    M ich dürfen Sie da nicht fragen«, sagte Paula Senner. »Ich weiß mehr oder weniger nichts von meiner Schwester.«
    Sie saßen in einem dieser Cafés auf der Hohenzollernstraße, die die Schwabinger für italienisch hielten. Niedrige runde Tische, unbequeme Stühle auf dem Bürgersteig, laute Radiomusik, lauwarmer Kaffee, raffiniert angebrannte Tramezzini. Kellner, die vor Lässigkeit im Stehen stolperten und Blondinen beschallten, die beseelt am Latte macchiato oder Aperol Sprizz nippten und einander auf so unheimliche Weise ähnelten, dass Süden fürchtete, sie kämen aus unterirdischen Klon-Laboratorien rund um den Starnberger See.
    Süden sagte: »Wen soll ich sonst fragen?«
    »Die Polizei hat mich auch schon gefragt, wir hatten sehr wenig Kontakt, Ilka und ich. Im letzten Sommer bin ich nach München gekommen, weil meine Mutter einen schweren Herzinfarkt hatte, und seitdem bin ich wieder hier. Hab mich entschieden zu bleiben. Wegen meiner Mutter, aber auch so. Ich war über fünfundzwanzig Jahre in Berlin, tolle Zeit, der alte Westen, die Freiheit der Unfreiheit. Ich hab in einer Schneiderei gearbeitet, in einer Töpferei, in einer Buchhandlung, von der Hand in den Mund. Aber dann, so vor zwei, drei Jahren, hatte ich den Eindruck, es langt, und ich dachte, ich könnte München vielleicht wieder aushalten. Und dann rief meine Schwester an und sagte, unsere Mutter liegt im Krankenhaus, die Ärzte wüssten nicht, ob sie durchkommt. Da habe ich meinen Koffer gepackt, mich in den Zug gesetzt, und das war’s. Ich bin ungebunden, mir reicht ein Zimmer mit Balkon, im Moment geht’s mir gut in der Boutique hier nebenan, mal schauen, wie lang ich’s ertrage. Die Leute, auch die Frauen, sind schon sehr speziell hier, anders als in Berlin. Obwohl ich am Kollwitzplatz heute auch nicht mehr wohnen wollte. Waren Sie in letzter Zeit mal in Berlin?«
    »Nein«, sagte Süden.
    »Wann zum letzten Mal?«
    »Kurz nach der Maueröffnung.«
    »Kommt mir vor, als wär’s ewig her.«
    »Nach Ihrer Rückkehr haben Sie viel Zeit mit Ihrer Schwester verbracht«, sagte Süden. »Im Krankenhaus, im Gasthaus, später, als es Ihrer Mutter wieder besser ging. Sie müssen sich persönliche Dinge erzählt haben, nach so langer Zeit.«
    Paula Senner hob ihr Wasserglas und sah eine Weile über die Straße, bevor sie einen Schluck trank und das Glas neben den Teller stellte, auf dem ihr halbgegessenes Tramezzino lag.
    Sie war dreiundfünfzig, hatte gelockte dunkelbraune Haare, die allmählich grau wurden, ein schmales, von schwungvollen Lebenslinien gezeichnetes Gesicht und schwarze, klar blickende Augen. Sie trug ein braunes, schlicht geschnittenes Kleid und an der linken Hand einen Ring mit einem türkisfarbenen Stein. Ihre Haut war sonnengebräunt, und auch wenn sie selten lächelte und die meiste Zeit aufrecht, fast reglos dasaß, strahlte sie eine

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