Süden und das heimliche Leben
war der erste Weg in die Werkstatt, fertig reparierte Räder polieren oder im Laden Schachteln einräumen, Spiele sortieren, alles Mögliche. Die Hausaufgaben fielen meistens aus.
Nein, unsere Mutter ließ unseren Vater gewähren, sie stellte sich nie vor uns. Ilka hat mehr darunter gelitten als ich, mich mochte sie, Ilka hat sie mehr oder weniger nur geduldet. Meine Schwester ist sieben Jahre jünger, eine Nachzüglerin, die nicht eingeplant war. Ob ich eingeplant war, weiß ich nicht, wahrscheinlich bin ich genau so überraschend auf der Welt aufgetaucht, wie mein Vater aus der Welt gegangen ist.
An einem Samstagvormittag kippte er in der Werkstatt um und war tot. Herzstillstand. Ilka war bei ihm, sie war sieben, unsere Mutter hatte sie mit einer Thermoskanne Kaffee und einer Butterbreze runtergeschickt. Sie hatte die Breze und die Kanne noch in der Hand, als meine Mutter und ich in die Werkstatt kamen, nachdem ein Kunde bei uns Sturm geklingelt hatte. Er war unmittelbar nach dem Tod meines Vaters aufgetaucht, und weil Ilka nur wie erstarrt dastand, hat er sich auf den Weg gemacht. Wir wohnten im Haus gegenüber.«
Wieder schaute Paula über die Straße, als beobachte sie jemanden oder etwas. Dabei wirkte sie nicht angespannt oder traurig, eher konzentriert, wachsam. »Er war dann also weg, unser Vater, und ich gestehe, ich habe am offenen Grab nicht geweint. Meine Schwester schon, meine Mutter auch. Vielleicht war ich deswegen so kühl, so gezwungen unbeteiligt: weil ich die Tränen meiner Mutter für verlogen hielt. Weil ich mir wünschte, sie hätte öfter mal eine Träne wegen uns vergossen, wegen Ilka und mir, wenn mein Vater wieder mal eine von uns in den Keller gesperrt hat, weil wir ein Rad nicht gut genug geputzt oder in der Schule schlechte Noten geschrieben hatten. Wie soll man in der Schule was leisten, wenn man keine Hausaufgaben machen darf? Mir fielen nachts die Augen zu, wenn ich noch rechnen oder einen Aufsatz schreiben musste. Ilka hatte bald kapituliert, sie machte ihre Hausaufgaben immer seltener, trotzdem schaffte sie den Übertritt von der Volksschule auf die Realschule. Mich haben sie aufs Gisela-Gymnasium geschickt, damit ich mal studiere und irgendwas werde. Was genau, hat mir niemand gesagt. Ich habe das Abitur tatsächlich geschafft, drei Komma eins, das reicht, wenn man nichts will.«
»Und dann lernten Sie den Busunternehmer kennen«, sagte Süden.
»Er hat mich bei der Gelegenheit auch gleich entjungfert und kurz darauf geschwängert. Ich hatte einen Abgang, danach habe ich die Pille genommen.«
»Hat Ilka die Realschule beendet?«
»Nein, sie fiel im ersten Jahr durch, wiederholte die Klasse, schaffte die sechste und blieb dann zu Hause. Sie vergrub sich in ihrem Zimmer, meine Mutter schickte mich zu ihr, damit ich sie zur Vernunft bringe, aber da war nichts zu machen. Sie wollte nicht mehr zur Schule, sie zitterte vor Angst, sie weinte jede Nacht. Nach einem Monat beschloss meine Mutter, sie zu Hause zu lassen.
Von da an half Ilka in der Werkstatt aus, meine Mutter hatte inzwischen einen alten Freund meines Vaters angestellt, der war gelernter Kfz-Mechaniker, kannte sich aber auch mit Fahrrädern aus. Mit Ilka an seiner Seite, die ziemlich geschickt war und keine Scheu vor den Kunden hatte, lief das Geschäft reibungslos weiter.
Währenddessen zog ich tatsächlich in den Chiemgau, half im Büro meines zukünftigen Mannes aus und schaute ihm beim Saufen zu, wenn seine Freunde zu Besuch kamen, die er noch aus dem Kindergarten kannte. Und ich ertrug seine Launen in der Nacht. Superschöne Hochzeit, Kloster Seeon, alles wunderbar. Ilka und meine Mutter waren auch dabei. Und zwei Jahre später – oder war es zwei Tage später? – habe ich kapiert, dass ich den ersten großen Fehler meines Lebens begangen hatte.
Wie gesagt, der große Fehler scheint noch am Leben zu sein. Aber ich bin es auch.
Neben den Schlägen und den Stimmungsschwankungen und der Trostlosigkeit in diesem Büro mit Blick auf Apfel- und Kirschbäume und grüne Wiesen und unfassbar rote Geranien auf den Balkonen waren diese Kindergartenfreunde meines Mannes das Schlimmste für mich. Männer mit Sprüchen so tiefsinnig wie Kuhfladen. Dagegen ist unser Kellner hier ein zärtlicher Frauenflüsterer. Die Freunde meines Mannes gingen mit fünfundzwanzig immer noch in die Grundschule. Jetzt fällt mir was ein.«
Schweigend warf sie Süden einen langen Blick zu. Dann sagte sie: »Weil Sie mich vorhin gefragt
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