Süden und das heimliche Leben
Entspanntheit aus, als hätte sie jegliche Terminlastigkeit ein für alle Mal überwunden.
»Wir waren schnell durch mit den persönlichen Dingen«, sagte sie. »Ilka hat mir erzählt, wo sie sechs Tage in der Woche arbeitet, und ich habe ihr erzählt, dass ich in den vergangenen vier Jahren in einer Buchhandlung gejobbt habe. Viel mehr war da nicht an Intimitäten, wenn Sie das meinen.«
»Das meine ich.« Süden verzichtete auf einen letzten Schluck aus der Kaffeetasse der verlorenen Bohnen. »Niemand verschwindet ohne Grund, oft treiben mehrere Gründe jemanden aus seinem Lebenszimmer. Ilka muss Andeutungen gemacht haben, irgendetwas muss Ihnen ungewöhnlich, irritierend erschienen sein. Jemand rief an, den Ilka nicht sprechen wollte. Sie beantwortete bestimmte Fragen nicht, die Sie ihr stellten. Ich will wissen, was Sie vermuten, was Sie dachten, nachdem Sie wieder allein in Ihrer Wohnung waren. Vermutlich haben Sie Ihrer Schwester deshalb so wenig von sich selbst erzählt, weil sie auch nicht reden wollte. Aber Sie hätten schon gern mehr gewusst.«
Paula lächelte und spitzte den Mund. »Das ist wahr, was Sie sagen.«
»Signora«, sagte Francesco, der Kellner und Alleinunterhalter, von der offenen Tür aus, wo er sich plötzlich materialisiert hatte. »Darf ich Ihnen noch etwas bringen? Einen Aperol Sprizz zur Erfrischung, mit Prosecco oder Weißwein.«
»Danke«, sagte Paula. »Ich bin erfrischt genug.«
»Und für den Herrn noch einen Kaffee? Espresso, Latte macchiato.«
»Danke«, sagte Süden. »Ich bin schon wach.«
Im Namen des heiligen Francesco, dem Schutzpatron belustigter Blondinen, warfen ihm die beiden Frauen vom Nebentisch sowie eine Frau, die sich, an ihr iPhone geklammert, gerade an einen anderen Tisch setzte, vernichtende, von keinem Gucci-Modell abzufedernde Blicke zu.
»Hab mich nämlich gefreut, meine Schwester wiederzusehen«, sagte Paula und lächelte immer noch. »Sie hat mich ja nie besucht in all den Jahren, kein einziges Mal. Am Anfang war mir das egal, ich wollte bloß raus aus München und weg und mich nie mehr umschauen. Haben Sie so was schon mal erlebt? Sie wollen sämtliche Brücken abbrechen und sogar bestimmte Erinnerungen auslöschen, innerlich werfen Sie Ihr altes Leben weg wie einen von Motten zerfressenen Mantel. Sie wollen nur noch nach vorn schauen und halten sich die Ohren zu, wenn Sie irgendwelche Echos aus der Vergangenheit wahrnehmen. Können Sie das verstehen?«
»Das verstehe ich sehr gut«, sagte Süden.
»Haben Sie was Ähnliches getan?«
»Ja.«
»Was war der Anlass?«
»Mein Beruf«, sagte Süden. »Ich war bei der Kripo.«
»Zu viele Tote gesehen, zu viele Opfer?«
»Zu viele Vermisste, die ich zurückbrachte und die ihr altes, totes Leben dann weiterführen mussten.«
»Besser, Sie hätten sie nicht gefunden«, sagte Paula.
»Ich erfüllte meinen Dienst.«
»So was Ähnliches hat Ilka auch gesagt, wenn ich sie gefragt habe, ob wir nicht mal einen Tag raus aufs Land fahren könnten, an die Seen, ins Grüne, in den supermalerischen Chiemgau. Da sagte sie immer, sie müsse arbeiten, sie habe Dienst, nichts zu machen.«
»Sie fuhren dann allein in den supermalerischen Chiemgau.«
»Ja. Nach Seeon. Wollte sehen, ob mein Ex-Mann schon auf dem Friedhof liegt. Zu früh gefreut.«
»Sie sind wegen ihm nach Berlin gegangen«, sagte Süden.
»Ich dachte, bevor er mich totprügelt und ich dann auf dem Friedhof von Seeon lande, hau ich besser ab. Das habe ich getan. Ich war einundzwanzig, als wir heirateten, er vierunddreißig. Hatte ein erfolgreiches Busunternehmen, eine Zweitwohnung in Laim, BMW . Der Schnurrbart hätte mich stutzig machen sollen.«
Sie lächelte, kürzer als vorher, doch ohne Verbitterung. »Die Methoden kannte ich von unserem Vater. Er konnte unfassbar charmant sein, beinahe zärtlich, und einen Tag später nur noch grausam und eisig. Wir hatten ein Fahrradgeschäft und dazu einen Spielzeugladen, vorn in der Schleißheimer, in der Nähe vom Nordbad. Meine Eltern arbeiteten beide, mein Vater hauptsächlich in der Werkstatt, meine Mutter im Laden, in dem man auch Fahrräder kaufen konnte. Lief alles gut.«
»Ihre Mutter hat Sie und Ihre Schwester nicht in Schutz genommen?«
»In Schutzhaft. Unsere Mutter stand im Laden, kochte das Essen, zog uns saubere Wäsche an und verbrachte jedes Wochenende mit Putzen vom Geschäft und der Werkstatt. Ilka und ich mussten ihr dabei helfen. Wenn wir Schule hatten und mittags nach Hause kamen,
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