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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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haben, ob Ilka mal einen Anrufer abgewürgt hat. Hat sie. Ein alter Schulfreund rief sie an, als ich bei ihr in der Wohnung war, sie wollte nicht mit ihm sprechen und beendete schnell die Verbindung.«
    »Wissen Sie den Namen?«
    »Ich glaube, sie nannte ihn Zeiserl.«
    »Wann waren Sie bei ihr?«
    »Vor über einem Monat«, sagte Paula. »Vielleicht länger.«
    »Kurz vor ihrem Verschwinden.«
    »Sie haben recht. Ja, daran habe ich gar nicht gedacht.«
    Süden griff in die Innentasche seiner Lederjacke, die er auf den Stuhl neben sich gelegt hatte, und holte das Handy heraus, das seine Chefin ihm aufgedrängt hatte. Er schaltete es ein, stand auf. »Ich muss eine Kommissarin anrufen«, sagte er und entfernte sich einige Schritte vom Tisch. Der mittlerweile blondinenlose Francesco beobachtete ihn von der Tür aus.
    »Kein Zeiserl auf der Anruferliste«, sagte Süden, nachdem Hauptkommissarin Birgit Hesse in der Akte nachgesehen hatte. »Auch kein ähnlich klingender Name. Danke. Und das eine Bier nehme ich auf jeden Fall in Anspruch.«
    Er beendete das Gespräch, schaltete das Handy aus und ging zum Tisch zurück.
    »Und Ihre Schwester kennt diesen Zeiserl aus der Volksschule«, sagte er und setzte sich unter den Augen Francescos, dessen Blicke die Hohenzollernstraße abgrasten, auf seinen Stuhl.
    »Sie sagte: ein Blödmann aus der Grundschule.«
    »Ein Blödmann aus der Grundschule.« Süden dachte an Ilkas Ex-Freund, die sogenannte Arschgeige aus dem Bilderbuch.
    »So nannte sie ihn, weiter hat sie nicht über ihn gesprochen.«
    »Ihnen sagt der Name nichts.«
    »Nein«, sagte Paula.
    Süden schwieg. Er hatte eine Spur und konnte sie nicht lesen.
     
    Das Bild der Familie fügte sich noch nicht zusammen. Ein unberechenbarer Vater, der seine Töchter in den Keller sperrte, wenn er sie bestrafen wollte. Eine geduckte Mutter, die an der schulischen Ausbildung ihrer jüngsten Tochter offensichtlich nur geringes Interesse zeigte. Nach dem Tod des Vaters brach Ilka die Realschule ab, während Paula weiter das Gymnasium besuchte. Was passierte in dieser Zeit innerhalb der Familie? Führte die Mutter das autokratische Regime ihres Mannes weiter, ohne auf Widerstand zu stoßen? Paula Senner hatte kein Wort darüber verloren. Kümmerte sie sich um ihre sieben Jahre jüngere Schwester? Brachte sie ihr allgemeine Kenntnisse bei, die sie selbst gerade erst in der Schule gelernt hatte? Geographie, Literatur, Musik, Geschichten aus der großen Welt? Süden hatte nicht danach gefragt.
    Er ging durch die Straßen Schwabings auf der Suche nach einem Blick in die Vergangenheit der verschwundenen Ilka Senner.
    Für halb neun hatte er sich noch einmal mit Paula verabredet, die bis acht arbeiten musste. Etwas fehlte in ihrer Geschichte. Etwas hatte sie ausgespart, absichtlich oder weil es ihr zu gewöhnlich erschien. Auch die Sache mit dem Anrufer, den Ilka aus der Leitung geworfen hatte, kam Süden unvollständig und deshalb bedeutungsvoll vor.
    Vielleicht irrte er sich.
    Vom Kurfürstenplatz ging er weiter in westlicher Richtung, im kühlen Schatten der Häuser, in Gedanken an eine Wohnung, in der eine Frau und zwei Mädchen ein Leben in geübter Abhängigkeit führten. Die Flucht Paulas zu einem älteren Mann, den sie sofort heiratete, verwunderte Süden nicht, ebenso wenig ihr Umzug nach Berlin, nachdem ihre Ehe sich als ein ähnliches Gefängnis herausgestellt hatte wie ihr Elternhaus.
    Ilka dagegen begehrte nicht auf – abgesehen davon, dass die Schule sie überforderte und sie den Unterricht verweigerte. Warum, dachte Süden, erhielt sie keinen Nachhilfeunterricht, entweder von ihrer Schwester oder einem Lehrer oder einer Mitschülerin? Wie reagierten Freunde und Bekannte auf die Entwicklung im Haus Senner? Paula hatte keinen einzigen Namen erwähnt, niemanden, der der Familie nahestand und gelegentlich zu Besuch kam. Als habe sich ihre Kindheit und Jugend in der Schleißheimer Straße ausschließlich in einem Kreis aus vier, später drei Personen abgespielt. Als hätte eine lebendige Außenwelt nicht existiert.
    Über den Hohenzollernplatz mit dem Brunnen und den leuchtenden Blumenrabatten und die Erich-Kästner-Straße erreichte Süden die Ausläufer des Luitpoldparks. Hier war er lange nicht mehr gewesen.
    Eine Viertelstunde später lag er im Gras des ehemaligen Schuttbergs und sah zum wolkenlosen Himmel hinauf. Seine Jacke hatte er neben sich gelegt, das Hemd aus der Hose gezogen, Schuhe und Socken abgestreift und Arme und

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