Süden und das heimliche Leben
gehört: unangebracht.
Dann stand er auf und lehnte sich an die Brüstung. Es war schon fast dunkel, wir mussten uns beeilen, nach Hause zu kommen. Als ich neben ihm stand, sagte er, er könne jetzt schon zaubern. Zeig mal, sagte ich, und er sagte, er könne zum Beispiel mich verschwinden lassen, das sei ganz einfach. Ich lachte wieder. Da gab er mir einen Schubs, und ich flog unter der Brüstung durch und den Baum runter. Das ging so schnell, dass ich nicht mal den Aufprall richtig mitgekriegt hab.
Ich schrie und heulte, ich hab sofort gespürt, dass ich mir das Bein und den Arm gebrochen hab und vielleicht sonst noch was. Die Schmerzen waren irre. Zeiserl kletterte die Treppe runter, kniete sich neben mich und sagte, wenn ich ihn verraten würd, würd er mich richtig verschwinden lassen, und zwar für immer. Hab ich sofort geglaubt.
Dann lief er zu meinen Eltern und sagte denen, ich wär vom Baum gefallen. Es dauerte ewig, bis sie da waren, der Sanitäter und die Polizei sind auch gekommen. Ich hab ihn nicht verraten, niemals. Ich hatte einen doppelten Schlüsselbeinbruch, einen Unterschenkelbruch und tausend Verstauchungen. Den Rest des Sommers und den ganzen Herbst hab ich praktisch im Krankenhaus und daheim verbracht, hier in diesem Haus. Meine Eltern haben mich immer wieder gefragt, was wirklich passiert ist, aber ich hab ihnen nichts erzählt.
Ich war neun, ich war schüchtern, ängstlich, feige auch. Danach haben wir uns nie mehr gesehen, der Zeiserl und ich, bis zu dem Tag vor fünf Wochen.«
» IU nd Sie haben ihr nicht auf den Vorfall angesprochen?«
»Nein. Ich wollt, dass er abhaut und nie wiederkommt. Aber ich hab es nicht geschafft, ich war wieder nicht mutig genug. Ich bin immer noch genau sofeige wie damals.«
»Sie sind nicht feige«, sagte Süden. »Sie wurden überrumpelt. Hat Zeisig angedeutet, ob er regelmäßig Kontakt mit Ilka hat? Hat er vorgeschlagen, dass Sie sich mal zu dritt treffen?«
»Nein. Er meinte bloß, er würd mich zu seiner Hochzeit einladen.«
Süden schwieg.
»Anscheinend will er heiraten. Ich hab nichts dazu gesagt, im Leben würd ich da nicht hingehen.«
»Er will Ilka heiraten.«
»So hab ich das verstanden. Aber … Wieso ist sie dann verschwunden?«
Der Mann drei Tische weiter sagte in sein Handy: »Ist schon saugeil in Kitzbühel …«
[home]
9
I n der Nacht nach seinem Besuch in Ilkas Wohnung, wo er zu seiner größten Überraschung einen Mann namens Süden getroffen hatte, änderte sich das Leben von Bertold Zeisig.
Aber das wusste er noch nicht, als er, erschöpft von seinem Auftritt bei einer Firmenfeier im Bogenhausener Grand Hotel, in seine Küche kam und Ilka am Tisch sitzen sah. Mit dem Finger fuhr sie über die vor ihr ausgebreitete Zeitung, Zeile für Zeile unterhalb des Fotos, das sie in einem weißen Pullover und Bluejeans auf einer Parkbank zeigte.
Sie sah nicht auf. Er ging wortlos zur Anrichte, wo ein Teller mit einem Apfel und einem Obstmesser lag, und goss aus einer angebrochenen Flasche Rotwein in ein Glas und trank es in einem Zug aus. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Sakkos über die Stirn, betrachtete die gekrümmt dasitzende Frau und sah das silberne Handy, das er auf ihren Wunsch hin aus der Wohnung geholt hatte.
Sie hatte ihn gefragt, ob er es nicht einfach herzaubern könne.
Sie hatte keine Ahnung von seinem Handwerk. Und wieso sie auf einmal ihr Handy brauchte, war ihm ein Rätsel. Überhaupt verstand er vieles an ihr nicht, ihr Verhalten, ihre fast hektische Art zu reden, als fürchte sie, er würde schlagartig weglaufen. Sie war nicht attraktiv, zu dürr, seiner Meinung nach, zu blass, zu farblos insgesamt. Trotzdem liebte er sie.
Er nannte es Liebe, weil ihm kein besseres Wort für das einfiel, was er in ihrer Nähe empfand. Und ihr ging es genauso, da war er sich sicher. Sonst hätte sie nicht angerufen und ihn gebeten, sie verschwinden zu lassen. Schließlich sei er doch ein großer Zauberer. Das waren ihre Worte gewesen. Natürlich hatte er gedacht, sie wolle ihn nur aufziehen und sei wahrscheinlich betrunken. Weder das eine noch das andere war der Fall. Sie meinte es ernst. Er hatte sie nach den Gründen gefragt, und sie hatte ihm erklärt, diese spielten im Moment keine Rolle.
Eine Weile hatte er öfter Menschen verschwinden lassen, meist Frauen, auf offener Bühne, gemeinsam mit seiner Assistentin Janine. Das war in der Blütezeit gewesen. Danach hatte sich alles geändert. Und jetzt hatte er wieder eine
Weitere Kostenlose Bücher