Süden und das heimliche Leben
festhalten, aber er griff daneben oder er griff überhaupt nicht danach, das wusste er nicht mehr. Dieses Detail war ihm abhandengekommen, wie sein Aufschlagen auf dem Asphalt, wie Janines Reaktion und ihr Verschwinden. Er verlor nicht das Bewusstsein, er lag nur da, auf dem Rücken, mit einem Schädel aus Schmerzen, die keine Geräusche von außen durchließen. Jemand kam und beugte sich über ihn. Noch jemand kam. Schließlich tauchte aus der verschwommenen Novembernacht ein Krankenwagen auf. Dann riss seine Erinnerung ab und setzte erst wieder im Krankenhausflur ein, als ein Arzt ihn nach seinem Namen fragte.
In diesen Momenten vor dem Spiegel wurde er zum Gefangenen seiner Vorstellung, und wenn er sich endlich davon freimachte – unter der kalten Dusche oder bei einer Flasche Rioja –, begann er manchmal zu lächeln.
Davon lebte er doch: dass sein Publikum zum Gefangenen
seiner
Vorstellung wurde, wehrlos und abhängig vom Willen des Mannes auf der Bühne, der als Einziger den Schlüssel zur Befreiung besaß.
Von alldem – und einigem anderen – hatte er Ilka bisher kein Wort erzählt.
Seit ungefähr einem Monat wohnte sie bei ihm und hatte ihm noch keine einzige Frage gestellt. Außer der einen, ob er sie eine Weile verschwinden lassen könne.
Er hatte es getan. Er würde es weiter tun. Für alle Zeit, dachte er unter der eisigen Dusche, die ihn nüchtern machte. Danach zog er seine Hauskleidung an, eine grüne Stoffhose und ein weißes T-Shirt, schlüpfte in die stabilen und bequemen Hauslatschen, die er aus einem Hotel mitgenommen hatte, und ging in die Küche.
Ilka saß immer noch am Tisch. Er setzte sich zu ihr. Seine Haare hatte er trocken gerubbelt und mit Duftwasser eingesprüht. Auf Rasierwasser hatte er verzichtet, wie aufs Rasieren.
Er kratzte sich an der linken Wange, schrappte über seine Bartstoppeln. Ilka schaute ihn an.
»Ich muss dir was erzählen«, sagte er.
»Ich muss dir auch was sagen.«
»Du zuerst.«
»Nein«, sagte Ilka und warf wieder einen schnellen Blick auf ihr Foto in der Zeitung.
»Heut Nacht in deiner Wohnung«, sagte Zeisig. »Da lag ein Mann in deinem Wohnzimmer auf dem Boden, er schlief.«
Sie sah ihn mit dem Ausdruck eines erschreckten Kindes an. Ihr Mund stand halb offen. Zeisig kam es vor, als würde sie die Luft anhalten.
»Harmloser Zeitgenosse. Ich bin zuerst auch erschrocken, aber wir haben keinen Grund zu erschrecken. Er ist wieder weg.«
»Aber wer … wer …« Sie stotterte fast.
»Sein Name ist Süden. Womöglich ein Tarnname. Er sucht nach dir, ich habe dich nicht verraten, Ilka. Ich habe noch nie jemanden verraten.«
»Ein Einbrecher«, sagte Ilka leise.
»Auf keinen Fall, der Mann hatte einen Schlüssel. Woher? Hast du eine Ahnung?«
»Nein. Von meiner Schwester!«
»Von einer Schwester hast du mir nie was erzählt.«
»Wozu denn?«
»Du hast recht, deine Familie geht mich nichts an. Den Schlüssel habe ich an mich genommen, mach dir deswegen also keine Sorgen.«
»Warum hat meine Schwester das getan?« Ilka redete nicht zu ihm, sondern zur Zeitung. »Warum hat die ihm meinen Schlüssel gegeben? Das darf die nicht, das hab ich ihr nicht erlaubt. Alle machen immer, was sie wollen. Nur im Lokal nicht, da dulde ich das nicht, da bestimme ich.«
»Sehr gut.«
»Ja, sehr gut. Ich muss dir was sagen.« Sie drehte den Kopf zu ihm. »Ich kann nicht länger hierbleiben, ich will schon, aber ich kann nicht. Mein Foto ist in der Zeitung, die Polizei ist hinter mir her, jeder in der Stadt sieht mein Gesicht, das ist mir unangenehm. Wenn meine Mutter das Bild sieht, bekommt sie einen zweiten Herzinfarkt. Die denkt doch, ich bin tot. Leute, die in der Zeitung gesucht werden, sind immer tot.«
»Das stimmt nicht.«
»Das stimmt, ich weiß doch, was die Gäste bei uns erzählen. Wenn das Foto von jemandem abgedruckt ist, ist der umgebracht worden. Oder er hat sich selber umgebracht. Das war immer schon so. Meine Leute denken, ich bin tot, und das möchte ich nicht. Das ist nicht gerecht. Ich hab meine Gründe gehabt wegzugehen, aber jetzt ist alles anders. Verstehst du das, Zeiserl?«
»Das verstehe ich«, sagte er.
Er dachte an eine Menge Dinge gleichzeitig. Wahrscheinlich hätte er schon früher mit der Planung für die Zukunft beginnen sollen, er hatte keine Zeit gehabt und Ilka keine Eile. Er wollte jetzt abwarten, zuhören, dann entscheiden und handeln. Alles war schlagartig anders, Ilka hatte recht, sie mussten sich beide darauf
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