Süden und das heimliche Leben
Bertold.«
Süden holte seinen kleinen karierten Spiralblock und den Kugelschreiber aus der Jackentasche. »Im selben Jahrgang wie Ilka Senner?«
»Ja.«
»Aber kein Aki Polder?«
»Nein.«
»Haben Sie eine Adresse von Bertold Zeisig?«
»Nein. Hier steht was! Polder, Gregor, aber drei Jahrgänge früher.«
Süden machte sich Notizen. »Auch keine Adresse.«
»Nein.«
»Sie haben mir sehr geholfen«, sagte er, steckte Block und Stift ein und ging zum Schreibtisch der Direktorin. »Sind da Fotos der Schüler?«
Hanne Gries zögerte, dann drehte sie den Computer in Südens Richtung. »Das ist das Gruppenfoto mit Ilka und Bertold in der ersten Klasse, auf dem Bild hier ist der Gregor Polder in der vierten, die Namen stehen drunter.«
Süden sah Ilka als Sechsjährige in einem dunklen Kleid – die Aufnahmen waren in Schwarzweiß – und in der Reihe vor ihr Bertold, einen in die Kamera grinsenden Buben mit zerwuseltem Haar und einem Rollkragenpullover. Auf dem anderen Foto sah er einen Jungen namens Gregor Polder in einer Kniebundhose und einem hellen Hemd. Weder er noch Ilka lächelten, beide wirkten, jeder auf seine Weise, in sich gekehrt und mürrisch.
»Was sagen Ihnen die Bilder?«
»Das weiß ich noch nicht.« Süden hätte ihr gern von dem nächtlichen Besucher in Ilkas Wohnung erzählt und dass er diesen für Bertold Zeisig hielt und dass in der Beziehung der beiden vermutlich auch Gregor Polder eine Rolle spielte. Doch er wusste, die Direktorin würde seine Informationen an die Kripo weitergeben, falls Birgit Hesse doch noch die Spur zu Ilkas Grundschule verfolgte.
»Und Sie?«, sagte die Direktorin. »Waren Sie ein guter Schüler?«
»Ich bin so durchgekommen.«
»Auf dem Gymnasium?«
»Ja.« Wie bei seinem Freund Martin war die Schule für ihn ein einziger Hürdenlauf gewesen, für den sie sich jedes Jahr von neuem die Beine ausreißen mussten, ohne dass dies einen Einfluss auf ihre Noten gehabt hätte.
»Das Abitur hat Ihren Einstieg in den Beruf bestimmt erleichtert. Was haben Sie ursprünglich gelernt?«
»Ich war Polizist.«
»Und warum sind Sie das jetzt nicht mehr?«
Süden gab ihr die Hand und ging zur Tür. »Danke für Ihre Geduld.«
»Die gehört zu meinem Beruf.«
Umringt von kreischenden, schreienden, rennenden Schülern, bahnte Süden sich den Weg in den Pausenhof. Dort blieb er stehen und hörte eine Zeitlang den wirbelnden Stimmen zu. Er beobachtete die Kinder bei ihren Neckereien und tolpatschigen Handgreiflichkeiten. Er sah Mädchen, die mit der Hand am Ohr ihrer Freundin wichtige Dinge zuflüsterten. Er sah Jungen, die sich mit Stimmen anschrien, die viel zu klein waren für die Lautstärke. Er sah zwei Lehrerinnen, die sich unterhielten und gleichzeitig das Geschehen im Blick behielten, und er spürte den Wind im Gesicht, der auch mitspielte.
Süden schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
Als er die Augen wieder öffnete, stand ein sechsjähriges Mädchen in einer kurzen Jeans und einem sonnenblumengelben Pullover vor ihm und sagte: »Hast du dich vielleicht verlaufen?«
»Und wie ist Ihr Name?«
»Tabor Süden.«
»Und um wen geht’s?«
»Haben Sie heute Zeitung gelesen?«
»Nein.«
»Eine ehemalige Schulkameradin von Ihnen ist verschwunden.«
Süden saß in einem Café am Kurfürstenplatz und trank schwarzen Kaffee, der zwielichtig schmeckte. Er war nicht der einzige Handytelefonist, aber der leiseste. Drei Tische weiter erläuterte ein Mann Anfang dreißig jemandem am anderen Ende die Vorteile von Kitzbühel. Soweit Süden zwangsweise verstand, hatte Kitzbühel ausschließlich Vorteile, egal, was andere Leute meinten.
»Ich hab keinen Kontakt zu ehemaligen Schulfreunden«, sagte Gregor Polder am Telefon.
»Ich würde Sie gern besuchen.«
»Das geht nicht.«
»Sie wohnen in der Akeleistraße«, sagte Süden. »Daher kommt Ihr Spitzname Aki.«
»Woher wissen Sie, wo ich wohne?«
»Von der Auskunft, von der ich auch Ihre Telefonnummer habe.«
»Die geben jetzt auch Adressen raus?«
»Sie können es verbieten lassen.«
»Das werd ich tun.« Polder hustete und stieß ein verkrampftes Lachen aus. »Obwohl mich sowieso nie wer anruft, mich kennt keiner, überflüssiger Aufwand.«
»Ich würde gern mit Ihnen persönlich sprechen.«
»Für mich ist das so persönlich genug.«
»Sie erinnern sich an Ilka Senner«, sagte Süden.
»Milka-Ilka, ja.«
»Erklären Sie mir den Spitznamen.«
»Sie war süß. Ich weiß nicht mehr, wer den
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