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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Taxifahrer, erfuhr Süden, hatte Ilka zunächst gesagt, sie wolle in die Fraunbergstraße. Diese Straße zweigte nach dem Thalkirchener Platz rechts ab, eine Einbahnstraße, die nach zweihundert Metern in den steilen Schmiedberg überging, der zur Wolfratshauser führte, einer vielbefahrenen Ausfallstraße.
    Unentschlossen stand Süden an der Kreuzung. Er überlegte lange, welche Richtung er einschlagen sollte, und entschied sich schließlich für den Tierpark. Er wandte sich um und ging los.
    So konnte er nicht sehen, dass eine Frau mit einer Wollmütze und in einem schweren Ledermantel aus dem grauen Haus in der Fraunbergstraße 13 trat. Wie sie sich an den niedrigen Holzzaun lehnte und die Hände vors Gesicht schlug. Sie hatte Angst. Die Angst war noch größer als die, die sie ihr Leben lang gehabt hatte, wenn sie wieder einmal befürchtete, jemand fände heraus, dass sie weder lesen noch schreiben konnte.
    Doch so wie früher, so wie immer, wollte sie auch diese neue Angst überwinden. Das musste sie einfach schaffen, und es würde ihr gelingen.
    Ilka Senner nahm die Hände vom Gesicht, warf einen verschwommenen Blick auf das Haus gegenüber, in dem ein Hundesalon untergebracht war, der »Hundewellness« versprach. Sie stieß ein Lachen aus, vielleicht das erste seit vielen Wochen, steckte die Hände tief in die Taschen des nach altem Schrank riechenden Mantels und machte sich mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf auf den Weg. Dorthin, wo sie für immer aufhören wollte, sich wie ein blödes Ding zu fühlen.

[home]
    13
    D ie Abruzzengänse, dachte Süden, taugten als Zeugen so wenig wie die rosa Pelikane, sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ihr Bestand war bedroht.
    Getrieben von der Vorstellung, dass Ilka Senner am vergangenen Sonntag nicht nur zu einem launigen Ausflug in den Tierpark Hellabrunn gekommen war, sondern, weil sie eine bestimmte Absicht damit verfolgte, streifte er über das sechsunddreißig Hektar große Gelände, vom Isar-Eingang hinter der Brücke bis zum Flamingo-Eingang am anderen Ende. Er hatte die Menschen mehr im Blick als die Tiere, auch wenn es unmöglich war, dem entspannt an der Futterkrippe fressenden Elch nicht eine Weile zuzuschauen.
    Der Bestand der Elche war gesichert. Vielleicht staksten sie deshalb wie in sich ruhend zwischen den mit Draht umwickelten Baumstämmen über die Wiese, während in der Nähe der ebenfalls gesicherte Steinbock auf seinem improvisierten Felsen schlief.
    Kinder rasten auf Bobby-Cars über die geteerten Wege, Erwachsene – unter ihnen italienische und französische Touristen – fotografierten das Indische Panzernashorn, das, obwohl gefährdet, seine urzeitlichen Panzerplatten genüsslich an der Steinmauer rieb und vielleicht hoffte, von jemandem gekrault zu werden. Angeblich schmuste es gern.
    Eltern zeigten ihren Kindern das lustig aussehende Bartschwein, das eine merkwürdige Beziehung zu Wachteln unterhielt. Beim Polarium sah Süden zwei Seelöwen rücklings auf einem Stein liegen, die Flossen auf dem Bauch, als beteten sie die Sonne hinter den Wolken an.
    Gegenüber trotteten zwei Eisbären in weißer Einsamkeit hinter der Glasscheibe auf und ab. Aus Gewohnheit und weil sonst nichts da war, fraßen sie die Blicke der Besucher.
    Ein paar Meter weiter pressten alte und junge Besucher ihre Nasen an die Scheiben des Pinguinbeckens. Süden setzte sich auf eine Bank und hielt weiter Ausschau. Hinter ihm wieherten Pferde, und als er sich umdrehte, sah er, dass es Zebras waren. Statt im Südwesten Afrikas lebten sie im Süden Münchens. Allerdings teilten sie sich ihr Gehege mit zwei Vögeln aus ihrer Heimat, dem Blauhalsstrauß, der sich damit begnügte, auf zwei Zehen zu laufen, dafür aber siebzig Stundenkilometer schnell, und dem aasfressenden Marabu, der zwar auf einem Bein stehen konnte, dadurch aber, fand Süden, nicht unbedingt graziler wirkte.
    Vermutlich hatte er in der vergangenen Stunde doch mehr die Tiere als die Menschen beobachtet, doch er war sich sicher, die vermisste Bedienung nicht übersehen zu haben.
    Früher hatte er auf diese Weise Spuren verfolgt. Auch wenn es häufig zunächst keine konkreten Spuren waren, sondern eher Abdrücke in der Luft, die er wahrzunehmen glaubte. Dellen in der Gegenwart eines Verschwundenen. Dessen Anwesenheit endete nicht, nur weil er sich nicht mehr an vertrauten Orten aufhielt und seine Stimme außer Hörweite war.
    Seit jeher betrachtete Süden eine Vermissung als ein Schauspiel

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