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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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ohrfeigte sie ihre jüngste Tochter, dass es hallte.
    Gerecht war das nicht, dachte Ilka jetzt ebenso wie damals, aber unvermeidlich.
    Wenn der Zeiserl nicht eines Nachts vor dem Lokal aufgetaucht wäre, hätte sie ihn wahrscheinlich für immer vergessen gehabt. Nicht vergessen, aber aus ihrem Kopf verbannt. Doch dann stand er da, und sie erkannte ihn sofort, obwohl sie ihn ewig nicht mehr gesehen hatte. Er erzählte ihr, er wäre Zauberer geworden, und das war eine schöne neue Nachricht, über die sie lange nachdachte. Sie gab ihm ihre Telefonnummer, die sonst fast niemand hatte, was nicht schlimm war, da sowieso nie jemand anrufen würde. Er rief zurück, jeden Tag, was sie fast als Belästigung empfand. Aber sie hatte diese eine Idee, und er sollte ihr helfen, die Idee Wirklichkeit werden zu lassen. Sie war ein dummes Ding gewesen und war es immer noch.
    Nicht mehr lange.
    Er hätte sie nicht schlagen dürfen.
    Er hätte ihr nicht vom Polder Gregor erzählen dürfen, den er Aki nannte, als wäre er einer, der das Recht hatte, Namen zu verteilen. Er hätte den Gregor nicht vom Baum werfen dürfen wie einen verfaulten Apfel.
    Wenn er den Gregor nicht vom Baum geworfen und er sie mit seiner verlogenen Stimme nicht an ihn erinnert hätte, hätte sie das Messer, mit dem sie vorher einen Apfel geschält hatte, vielleicht auf dem Teller liegen lassen.
    Wenn er sie nur – aus welchen Gründen auch immer, und Gründe gab es immer, das wusste sie noch aus der Kinderzeit – geohrfeigt oder mit dem Handtuch geschlagen hätte, hätte vielleicht nur ihre Nase geblutet und nicht sein Bauch auch noch.
    Sein Bauch hatte sehr geblutet. Das war eigentlich schön, dachte sie und erschrak ein wenig darüber. Weißt du, Mimi, sagte sie, ohne den Mund zu öffnen, ich hab ihn ins Bad verfrachtet, damit er nicht die ganze Wohnung versaut. Er wollt ja überall hinkriechen, weiß nicht, wieso. Erst ist er umgefallen, dann wollt er was sagen, was nicht funktioniert hat, dann hat er die Arme ausgestreckt wie beim Schwimmen und ist in den Flur und ins Wohnzimmer gekrochen wie ein Reptil. Das war nicht zum Anschauen, Mimi. Also hab ich ihn gepackt wie einen Bierkasten aus Fleisch und Blut, hab ihn ins Bad geschleift und hochgewuchtet über den Rand der Wanne, und er ist reingeplumpst. Rote Schleifspuren allüberall. Unter der Spüle in der Küche hat er seine Putzlumpen, die hab ich über das Blut drübergelegt. So war das, Mimi, das ist die ganze Geschichte.
    Jetzt sah sie die beiden Frauen wieder, die eine mit dem roten, die andere mit dem gelben Regenschirm. Sie schauten zu ihr her, zwanzig Meter entfernt, und sie machten den Eindruck, als wunderten sie sich.
    Was ist?, dachte Ilka. Sie wischte sich mit beiden Händen über die Wangen und die Augen, rieb fest und schmeckte den salzigen Rotz auf der Zunge. Die beiden Frauen gingen weiter zum Parkplatz. Ilka schaute ihnen hinterher, sie drehten sich nicht mehr um.
    Auf dem Kiesweg stand das Taxi, das auf Ilka wartete. Sie war nun die einzige Besucherin auf dem Tierfriedhof mit den verzierten und gepflegten Gräbern für Hunde und Katzen.
    »Ich hab im Voraus alles bezahlt«, sagte sie zum Foto ihrer Mimi. »Mach dir also keine Sorgen.«
    Bevor sie sich umwandte, um endgültig zu gehen, dachte sie an die Bemerkung des Mannes in der Badewanne über den Fremden, der in ihrer Wohnung gewesen war. Dessen Namen hatte sie sich gemerkt: Süden.
    Wer immer das gewesen sein mochte und was immer er nachts in ihrer Wohnung zu suchen hatte, spielte keine Rolle mehr.
    Sie würde ihn nie kennenlernen.
     
    Die Frage, die Süden beschäftigte und über die er auch mit der Kommissarin gesprochen hatte, lautete: Warum meldete sich die verschwundene Ilka Senner nicht? Wenn scheinbar alles in Ordnung war und sie im Tierpark spazieren gehen konnte. Wenn sie also in einem Anfall von existenzieller Unsicherheit ihr altes Leben vorläufig verlassen hatte und nun feststellte, dass die Polizei nach ihr suchte und ihr Verhalten keine Privatsache mehr war, bräuchte sie nichts weiter zu tun, als bei der nächsten Inspektion anzurufen. Sie könnte versichern, dass es ihr gutgehe, und erklären, sie habe eine Entscheidung getroffen, die nur sie etwas angehe. Sie bitte darum, die Fahndung einzustellen.
    Solche Anrufe hatte Süden auf der Vermisstenstelle häufig entgegengenommen. Wenn keine gravierenden Gründe – unauffällige Andeutungen von Selbstmordabsichten – dagegen sprachen, löschte er die Daten im

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