Süden und das heimliche Leben
Computer und schickte einen offiziellen Widerruf ans Landeskriminalamt.
Was könnte Ilka Senner davon abhalten, sich zu melden? Er hielt es für unwahrscheinlich, dass sie von dem Aufruf an die Bevölkerung, bei der Suche zu helfen, nichts mitbekommen hatte. Warum war Bertold Zeisig nicht in München gemeldet, obwohl er auf Aufträge angewiesen war und Visitenkarten mit seiner Telefonnummer verteilte?
Ohne richterlichen Beschluss würde die Telefongesellschaft die Adresse des Zauberers nicht herausgeben, schon gar nicht gegenüber einer Detektei. Dabei war der Mann der wichtigste Zeuge. Er hatte einen Schlüssel zur Wohnung der Vermissten, er hatte einem ehemaligen Schulfreund erzählt, er würde Ilka heiraten. Und er hatte einen Auftritt in Harlaching gehabt. Alles Spuren, die noch mehr Nebel verursachten.
Obwohl Süden die Nacht und der Morgen bei Birgit Hesse nachhingen, bemühte er sich um klare und einfache Gedanken. Fest stand: Zeisig tauchte ungefähr zwei Wochen nach Ilkas Verschwinden in ihrem Lokal auf. Wusste er nicht, was passiert war? Immerhin ließ er seine Visitenkarte da, als hoffte er tatsächlich auf einen Auftrag. Wollte er den Wirt aushorchen? Hatte Ilka ihn geschickt? Das wäre möglich.
Die Aussage mit der geplanten Heirat ergab keinen Sinn. Zeisig hatte seinem Freund Aki Unfug erzählt, davon war Süden überzeugt. Warum hatte er das getan? Welche Rolle spielte Ilka in dem zerrütteten Verhältnis zwischen den beiden Männern? Zeisig, dachte Süden, war nicht nur ein Taschenspieler, er spielte auch Menschen gegeneinander aus, er war gerissen, heimtückisch und kalt. Sein Benehmen in Ilkas Wohnung war auf eine Weise kaltblütig gewesen, wie Süden sie von Berufsverbrechern kannte.
Und warum hatte Ilka sich nicht an ihren alten Freund Gregor Polder gewandt? Weil er sie nicht in sein Haus gelassen hätte? Weil sie wusste, wie er lebte und wie verstört er im Grunde war? Weil sie sich nicht auf ihn hätte verlassen können?
Die Panik hatte bei Ilka Senner jede vernünftige Überlegung außer Kraft gesetzt, vermutlich bis heute, fast fünf Wochen nach ihrem Verschwinden.
Stimmte das überhaupt? Sie hatte ihre Wohnung aufgeräumt und nicht überstürzt verlassen. Sie hatte Kleidungsstücke eingepackt, und sie hatte mit Bertold Zeisig telefoniert. Dann allerdings hatte sie ihr Handy in der Küche liegen lassen. Im letzten Moment war sie doch leichtsinnig gewesen.
Ilkas Verhalten kam Süden nicht weniger rätselhaft vor als das von Zeisig. Beide – ähnlich wie Gregor Polder in der Akeleistraße und wie Paula Senner es in Berlin getan hatte – führten ein Leben, von dem andere nichts wissen durften. Sie zeigten sich zwar, aber nur zur Hälfte. Sie waren scheinbar anwesend, während sie anderswo unscheinbar weiterexistierten. Sie konnten nicht anders, es entsprach ihrer Natur. Sie waren Nomaden des Augenblicks.
»Gesehen hab ich sie nicht oft«, sagte Anja Reichl, die im selben Haus wie Ilka Senner wohnte, auf demselben Stockwerk.
Süden besuchte die Achtundfünfzigjährige, weil er hoffte, von ihr etwas über eine Beobachtung zu erfahren, die er vor lauter persönlicher Hautereignisse beinah vergessen hätte. »Sie war da und auch schon wieder weg. Komisch. Und jetzt les ich, sie ist verschwunden, wieso das? Die Polizei hat mich auch schon gefragt, zweimal sogar, gestern schon wieder, und dauernd ist ein Streifenwagen am Spitzingplatz vorbeigefahren.«
Süden sagte: »Haben Sie manchmal auf ihre Katze aufgepasst?«
»Auf die Mimi? Die ist schon lang tot, mindestens ein Jahr. Nein, die Mimi war ihr Heiligtum, an die durfte niemand ran. Ich hab auch lang überhaupt nicht gewusst, dass sie eine Katze hat. Eigentlich sind Haustiere von der Hausordnung her verboten. Aber die Frau Senner war nicht die einzige Mieterin mit einer Katze, mich stört das nicht, die anderen Mieter auch nicht. Eine Dogge oder ein Kampfhund, das wär nicht erlaubt, da würd ich mich dagegen wehren.«
»Der Polizei haben Sie von der Katze nichts erzählt.«
»Die haben mich nicht gefragt, und ich hab selbst nicht mehr dran gedacht. Wie kommen Sie auf die Mimi?«
»Ihr Korb steht noch in der Wohnung.«
»Ach so.«
»Frau Senner hat sich nach Mimis Tod keine neue Katze geholt?«
»Nein. Die war sehr traurig, die Frau Senner, als das passiert ist. Die Mimi ist überfahren worden, direkt unten an der Ecke. Von einem Lastwagen, der da durchgebrettert ist. Hier ist Tempo 30 , daran hält sich niemand. Für die
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