Süden und das heimliche Leben
Frau Senner war das fast eine Tragödie. Außer mit ihrer Katze hat sie mit kaum jemand geredet. Wenn die Balkontür offen stand, hab ich das gehört, mein Balkon ist ja gleich nebenan. Ja, die Mimi. Die Frau Senner hat sie einschläfern lassen und dann beerdigt, ganz stilvoll. Ich war nie dort, aber sie hat mal was erwähnt.«
»Was hat sie erwähnt, Frau Reichl?«
»Dass Sie sich meinen Namen gemerkt haben! Sie hat erwähnt, sie hat eine Grabstätte gekauft, auf dem Tierfriedhof in Untermenzing, mit Grabstein und allem Drum und Dran. Da liegt die Urne mit der Asche von der Mimi. Ich glaub, die Frau Senner ist oft hingefahren, sehr oft. Ja, das Andenken hat sie hochgehalten. Die war so schwarz-weiß gescheckt, die Mimi, ich hab sie nur ein oder zwei Mal gesehen, ganz samtig, das Fell, ich hab sie sogar mal streicheln dürfen, da hat sie geschnurrt.«
Aufgrund seiner langjährigen Weghörerfahrung prasselten die Auslassungen des Taxifahrers über das Verhältnis der Menschen zu ihren Haustieren und deren Huldigungen nach dem Tod an Süden vorbei wie der Regen, der wieder eingesetzt hatte.
Er saß auf der Rückbank, hinter dem Beifahrersitz, bewunderte die Reiseroute quer durch München und war mehrmals kurz davor, den Taxler zu fragen, ob er ihn für einen Asiaten oder Aquanauten hielt, der vor Begeisterung über die sinnlose Stadtrundfahrt mit den Ohren schlackerte. Ständig beschimpfte der Fahrer andere Verkehrsteilnehmer, offensichtlich wegen deren Teilnahme am Verkehr. Zum Ausgleich stellte Süden sich das behagliche Schnurren einer Siamkatze vor.
Den Breiten Weg zu finden, wo sich der Tierfriedhof »Letzte Ruhe« befand, kostete den Taxler weitere fulminante Empörungsausrufe angesichts der Obermenzinger Felderlandschaft und der miserablen Beschriftung der Feldwege. Dann stellte er auf dem Schotterplatz vor dem Bürogebäude den Motor ab, drehte sich zu Süden um und sagte: »Da sind wir jetzt zügig durchgekommen, oder?«
Eine Angestellte führte Süden unter einem Regenschirm über die Wiese. »Die Frau Senner hat das Grab auf fünf Jahre gemietet«, sagte sie. »Da es ein Einzelgrab ist, kommt natürlich ein Zuschlag dazu, Jäten, Gießen und ähnliche Kleinarbeiten gehen extra. Aber Frau Senner hat alles schon bezahlt. Hier ist es.«
Süden sah das Foto der Katze, die gelben Rosen und blauen Vergissmeinnicht und die kleinen lila Steine. »Die Rosen sehen frisch aus«, sagte er.
»Die hat die Frau Senner wahrscheinlich mitgebracht.«
»Wann denn?«
»Heut, vorhin, schätz ich.«
»Sie schätzen das?«
»Ich hab sie nur kurz gesehen, als sie in das Taxi gestiegen und weggefahren ist. Ich weiß nicht, ob sie die Blumen schon vorher mitgebracht hat.«
»Sie ist in ein Taxi gestiegen«, sagte Süden.
»Die S-Bahn ist ein Stück entfernt, die meisten unserer Kunden kommen mit dem Auto oder halt mit dem Taxi.«
Süden ließ die Angestellte unter ihrem Schirm stehen und lief los. Vorbei an Gemeinschafts- und Einzelgräbern voller Engels- und Spielzeugfiguren, Stofftieren und über dem Grabstein hängenden Hundehalsbändern, an bunten Blumengestecken, verzierten und bemalten Laternen, Steinen in allen Farben und Formen mit Inschriften wie »In unserem Herzen lebst du weiter« oder: »Du warst mein bester Freund«.
Keuchend nahm Süden neben dem Fahrer Platz, wischte sich den Regen aus dem Gesicht, zog den Reißverschluss seiner Lederjacke auf, dachte einen Moment nach. »Einer Ihrer Kollegen war hier«, sagte er. »Ich muss wissen, wohin er mit seiner Kundin gefahren ist.«
»Leichte Übung, Meister«, sagte der Taxler und sprach über Funk mit seiner Zentrale.
»Fraunbergstraße«, sagte eine Frau in der Zentrale, nachdem sie eine Rundfrage unter den Kollegen gestartet hatte. »Ist Ecke Thalkirchener Platz ausgestiegen.«
»Zufrieden?«, fragte der Taxler.
»Wir fahren hin.«
»Und tschüss, ihr toten Tierchen.« Der Taxler gab Gas, denn für die Wahrung der Totenruhe wurde er nicht bezahlt.
Als Süden am Thalkirchener Platz ausstieg, hörte es auf zu regnen. Innerhalb weniger Minuten wurde die Luft schwül und dampfig. Aus dem nahen Tierpark drangen Tierlaute herüber.
Er schaute sich um. In dieser Gegend war Ilka Senner schon vor drei Tagen gewesen. War hier ihr Versteck? Wen kannte sie in Thalkirchen oder Obersendling? Besuchte sie heute ein zweites Mal den Tierpark, unbeschwert, aus reiner Zuneigung zu den Tieren, ohne Not, sich gegenüber jemandem erklären zu müssen?
Dem
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