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Süden und das Lächeln des Windes

Süden und das Lächeln des Windes

Titel: Süden und das Lächeln des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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vorne durch, wie viele Tage ich zu Fuß bis nach München unterwegs wäre. Ich wusste, es waren etwa sechzig Kilometer, wenn ich also jeden Tag fünf Kilometer schaffte, dann… Plötzlich war mir so kalt, dass ich glaubte zu erfrieren. Ich dachte an meine Mutter, die eine Freundin besucht hatte, als ich verschwand, und ich überlegte, was sie wohl als Erstes getan hatte, nachdem ich nicht aufzufinden war. Mein Vater machte Überstunden in der Fabrik, sie hatten wieder einen eiligen Auslandsauftrag, und ich dachte an das Wort »Auslandsauftrag«, das mein Vater jedes Mal mit Betonung aussprach, und ich stellte mir Männer in Anzügen vor, die riesige Mengen Geld in Metallkoffern nach Taging brachten, Männer, die englisch oder spanisch sprachen, wenn sie überhaupt ein Wort sagten und nicht nur Dokumente tauschten und Unterschriften unter dicke Verträge setzten. Mein Vater war Ingenieur und die Maschinenbaufabrik, in der er arbeitete, war offenbar in der ganzen Welt bekannt.
    Meine Mutter würde mit dem Fahrrad zu ihm fahren, denn wir hatten noch kein Telefon, und er würde sie vertrösten und beruhigen. In der Nacht, nachdem der Auslandsauftrag erledigt und mein Vater endlich nach Hause gekommen war, hatten sie wahrscheinlich bei den Nachbarn geklingelt, die nicht nur ein Telefon, sondern im Gegensatz zu uns auch einen Fernseher besaßen, und die Polizei angerufen.
    Fünf Jahre später erst, als meine Mutter schon gestorben war und mein Vater einen Plan hegte, von dem ich nichts wusste, erfuhr ich, dass sie die Polizei nicht angerufen hatten, nicht in der ersten und nicht in der zweiten Nacht. Sie wollten niemandem das Weinen meiner Mutter zumuten.
    Mir kam es vor, als bediene das Mädchen heimlich einen Heulschalter. Bei jedem Wort, das ihre Mutter an sie richtete, kniff sie die Augen zusammen und schluchzte und schniefte und trommelte mit den Füßen auf den Boden.
    »Benimm dich jetzt!«, sagte Bettina Tiller.
    Saras Reaktion bestand aus einem Gurgeln. Auf dem Küchentisch standen eine Schüssel mit Salat und eine mit geschälten gekochten Kartoffeln, und auf ihren Tellern hatten Mutter und Tochter ein Stück paniertes Fleisch und Broccoli, was sie kaum angerührt hatten.
    Als ich eingetreten war, hatte sich Sara schon mitten in ihrer Heulorgie befunden.
    »Tut mir Leid«, sagte Bettina Tiller. Sie war Mitte vierzig, leicht übergewichtig und hatte blond gefärbte Haare mit rötlichen Strähnen. Auf die Ausbrüche ihrer zehnjährigen Tochter reagierte sie mit kühler Wachsamkeit.
    »Iss jetzt!«, sagte sie.
    Sara warf die Gabel, die sie, vermutlich versehentlich, noch in der Hand hielt, auf den Teller. Dann zog sie den Rotz hoch und starrte mit verschwommenen Augen zwischen uns hindurch. Ich hatte mich an den Tisch setzen müssen und saß ihr genau gegenüber.
    »Ihre Tochter ist mit Timo eng befreundet«, sagte ich, obwohl ich dasselbe schon zweimal gesagt und Bettina Tiller es jedes Mal bestritten hatte.
    »Ist sie nicht!«, sagte sie wieder, und an ihre Tochter gewandt: »Bitte, Sara! Das Fleisch wird kalt.«
    »Du kannst mir nichts verbieten«, sagte Sara, ohne ihre Mutter anzusehen.
    »Doch. Und das tu ich auch. Und du weißt genau, warum!«
    Wie auf Knopfdruck schossen Tränen aus Saras Augen. Jetzt wandte sie mir den Kopf zu. Ich schaute sie an.
    Vielleicht erwartete sie Unterstützung von mir. Aber auch sie, obwohl sie noch ein Kind war, gehörte zu den Menschen, die mich daran hinderten, Timo Berghoff zu finden, für dessen Vermissung ich zuständig war.
    »Warum?«, fragte ich Saras Mutter.
    »Das weiß sie genau.«
    »Ich möchte es auch wissen.«
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen, das geht nur mich und meine Tochter was an.«
    Ein paar Sekunden herrschte Stille. Sara unterdrückte ihr Schluchzen. Dann sprang das Mädchen auf, rannte in den Flur, riss einen weißen Anorak von der Garderobe, zog sich hastig Stiefel an, band sich einen rosafarbenen Schal um den Hals, setzte die Ohrschützer auf und stürzte aus der Wohnung. Bettina Tiller blieb sitzen, als wäre nichts passiert.
    Ich schwieg.
    Lustlos schnitt sie ein Stück Fleisch ab und aß es.
    »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie Saras Essen haben, es ist noch warm.«
    »Warum nicht?«, sagte ich. Ich langte über den Tisch und nahm mir den Teller.
    »Kartoffeln?« Sie hielt mir die Schüssel hin.
    Schweigend aßen wir lauwarmes Schnitzel mit lauwarmen Kartoffeln und lauwarmem Broccoli, dazu kalten Salat. Es schmeckte.
    »Wo geht sie hin?«,

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