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Süden und das Lächeln des Windes

Süden und das Lächeln des Windes

Titel: Süden und das Lächeln des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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ich.
    Erschrocken drehte das Mädchen sich um. Ich zeigte ihr den Dienstausweis.
    »Sie heißen Süden?«, Sie hatte einen breiten Mund und große hellblaue Augen. Sie trug einen Wildledermantel, der teuer aussah.
    »Ja«, sagte ich. »Wie ist dein Name?«
    »Annegret Wildner«, sagte sie.
    »Annegret, kennst du den Timo Berghoff?«
    »So halb.«
    »Wie genau halb?«
    »Halb halt.«
    »Er geht nicht in deine Klasse«, sagte ich.
    »Nö.«
    »Hast du gehört, dass er verschwunden ist?«
    »Nö.«
    »Interessiert es dich, wo er ist?«
    »Ist er tot?«, fragte sie.
    »Keine Ahnung«, sagte ich.
    Dann schwieg ich. Wir standen zwischen zwei Drahtzäunen, die die jeweiligen Grundstücke abgrenzten und voller Schnee waren. Annegret wich meinem Blick aus, ich sah ihr an, dass sie an einer Strategie bastelte.
    Ich sagte: »Hast du den Timo gestern gesehen?« Sie zögerte. »Kann schon sein«, sagte sie dann.
    »Die Sara hat ihn geohrfeigt.«
    »Blödsinn!«
    Sie schaute mich aus ihren großen hellen Augen an, es kam mir vor, als würde mich ihr Blick überschwemmen.
    »Sie hat ihm ins Gesicht geschlagen«, sagte ich.
    »Waren Sie dabei?«
    »Ich nicht, du?«
    Sie zog an den Riemen ihres Rucksacks. »Mir ist kalt. Ich will nach Hause. Ich hab Hunger.«
    »Glaubst du, Sara weiß, wo Timo steckt?«
    »Wieso Sara?«, fragte Annegret. Offenbar war ihr das Basteln nicht recht geglückt.
    »Die beiden sind befreundet«, sagte ich.
    »Na und?«
    »Wenn dein Freund sich verstecken würde«, sagte ich , »dann würdest du doch wissen, wo.«
    »Ich hab keinen Freund, ja?«
    »Aber wenn du einen hättest.«
    »Ich hab aber keinen.« Sie wandte sich um und ging weiter und ich folgte ihr.
    »Ich werde mal mit deiner Mutter reden«, sagte ich. Abrupt blieb sie stehen und wäre bei der heftigen Bewegung beinah ausgerutscht. »Wieso denn?«, sagte sie.
    »Was hat die damit zu tun? Die kennt den Timo überhaupt nicht, ja?«
    »Vielleicht doch«, sagte ich.
    »Nein!«, sagte sie. »Was wollen Sie eigentlich von dem?«
    »Ich arbeite auf der Vermisstenstelle, ich bin zuständig für verschwundene Leute.«
    »Der ist doch nicht verschwunden, der Timo«, sagte Annegret.
    »Natürlich ist er verschwunden, das habe ich dir doch gesagt. Seine Mutter hat eine Vermisstenanzeige erstattet.«
    »Die lebt doch daneben, die Alte!«
    »Mag ja sein«, sagte ich. »Aber Timo ist verschwunden, deswegen ist sie zur Polizei gegangen.«
    »Der Timo ist nicht verschwunden, okay? Dem gehts gut, ja?«
    »Annegret«, sagte ich.
    Sie betrachtete den Schnee um uns herum.
    Ich schwieg. Also hob sie den Kopf und goss einen Blick über mich.
    »Ist er bei seiner Tante?«, sagte ich.
    Sie sagte nichts. Ich verschränkte die Arme und stellte mich ihr in den Weg, autoritär wie ein trainierter Lehrer.
    »Was macht er den ganzen Tag bei seiner Tante?«, fragte ich.
    Vielleicht geblendet vom Schnee sah sie mich an. »Weiß ich doch nicht!«, sagte sie und verzog den Mund, der dadurch noch breiter wirkte.
    »Und warum ist er weggelaufen?«
    »Weil seine Mutter total daneben lebt, deswegen, okay?« Sich selbst beschimpfend, stapfte sie an mir vorbei. In ihrem Rucksack klirrte etwas.
    Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und fegte dabei eine Mütze aus Schnee vom Kopf.

7
    A ls ich in jener Nikolausnacht von zu Hause weglief, war ich von der Vorstellung getrieben, hinter mir versinke die Gegenwart aus engen Straßen und engen Köpfen in einer unwiederbringlichen Vorzeit, die schon bald aus meiner Erinnerung verschwinden würde wie geschmolzener Schnee.
    Zwei Nächte trieb ich mich in den Wäldern herum, trank eisiges Wasser aus Bächen, kaute seifig schmeckende Blätter, trotzte dem Hunger, der mich schwindlig machte.
    Wenn ich erschöpft und frierend auf einen Jägerstand kletterte, um dort oben vielleicht etwas Essbares zu finden, betrachtete ich die schwarzen Wälder, die grauen Hänge und Wiesen, die Umgebung, die mir bisher so vertraut war, wie ein fremdes Gebiet, das ich nur zu betreten brauchte, um in einer großen Freiheit zu sein.
    Ich hatte Angst. Das Knistern und Rascheln hörte nicht auf, ich hörte Tierlaute, die ich nicht kannte, und wenn ich aus Versehen mit den Schuhen aneinander stieß, erschrak ich, als gehörten die Füße nicht zu mir. In der zweiten Nacht blieb ich bis zur Dämmerung auf einem Hochsitz, hockte auf zwei Brettern, die waagrecht an die Holzwand genagelt waren, presste die verschränkten Arme an meinen Körper und rechnete immer wieder von

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