Süden und das Lächeln des Windes
warteten neue Halbwahrheiten über die Verhältnisse in der Familie Berghoff auf uns.
»Können wir ausschließen, dass der Junge entführt worden ist?«, hatte Volker Thon, der Leiter der Vermisstenstelle, heute Morgen gefragt.
Es war eine rhetorische Frage. Zu einem so frühen Zeitpunkt der Fahndung schlossen wir nichts aus, ein freiwilliges Weglaufen so wenig wie ein Verbrechen, einen Unfall oder Selbstmord. Was Letzteren betraf, so wäre Timo nicht das erste Kind unter zehn Jahren, das sich umbrachte. Vor ein paar Jahren suchten wir nach einem siebenjährigen Mädchen, das von zu Hause ausgerissen war und nach den Aussagen der Eltern eine Freundin in Wien besuchen wollte, mit der sie aufgewachsen war und die vor kurzer Zeit aus ihrer gemeinsamen Straße weggezogen war. Wir fanden das Mädchen unter einer Autobahnbrücke im Norden der Stadt, sie hatte sich mit einem Taschenmesser die Pulsadern aufgeschlitzt. Ein siebenjähriges Kind. Die Eltern behaupteten, sie hätten keine Erklärung dafür, bei der Beerdigung brach die Mutter zusammen und wurde danach monatelang in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Wir schlossen den Fall ab, ohne je zu erfahren, was hinter dieser Tragödie gesteckt hatte. In einem anderen Fall warf sich ein achtjähriger Junge vor die U-Bahn, nachdem er von seinem Stiefvater missbraucht worden war. Einen Zusammenhang zwischen dem, was er, und dem, was der Junge getan hatte, bestritt der Mann noch in der Gerichtsverhandlung. Wir hatten keine Chance, den Suizid zu verhindern. Fast zur gleichen Zeit, als die Mutter das Verschwinden ihres Kindes meldete, erhielten wir die Nachricht, dass es auf der Linie der U6 einen »Personenschaden« gegeben hatte. Wie wir rekonstruieren konnten, hatte der Junge um halb acht Uhr morgens sein Elternhaus verlassen, ohne die Schultasche mitzunehmen. Er fuhr mit dem Linienbus, den er jeden Tag benutzte, zu einer Haltestelle, in deren Nähe es ein McDonald’s-Restaurant gab, wo er sich eine Cola und eine große Portion Pommes frites bestellte, beides verzehrte er vollständig. Daraufhin nahm er die U-Bahn zum Marienplatz und stieg dort aus unerklärlichen Gründen in eine andere Linie um, die ebenfalls zum Sendlinger-Tor-Platz fuhr, der offensichtlich sein Ziel war. Er verließ den Zug, wartete, bis dieser abgefahren war, ging an die Bahnsteigkante, steckte die Hände in die Hosentaschen und ließ sich vor die nächste einfahrende Bahn fallen.
Er starb fünf Stunden später im Krankenhaus. Der U- Bahnfahrer hatte den Schock nie überwunden, er kündigte seine Stelle bei den Verkehrsbetrieben und arbeitete danach als Portier, weil er keine Nacht mehr schlafen konnte.
»Wir haben keine Hinweise auf Selbstmord«, sagte ich.
»Warum meldet sich der Vater nicht?«, fragte Thon und zupfte an seinem seidenen Halstuch.
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Martin.
»Könnte der Junge auf dem Weg zu ihm sein?«, fragte Thon.
»Ich hab einen Vermerk in die Meldung geschrieben«, sagte Martin. »Die Bahnhöfe werden informiert.«
»Der Junge könnte mit jemandem im Auto mitgefahren sein«, sagte Thon.
»Per Anhalter?«, fragte Martin.
»Mit einem Bekannten möglicherweise. Ist es sicher, dass der Vater sich noch in Wolfsburg aufhält?«
»Es ist nicht sicher«, sagte Martin.
»Das ist alles beunruhigend«, sagte Thon und zündete sich ein Zigarillo an, weil Sonja Feyerabend, die das Rauchen bei Besprechungen verboten hatte, krank war.
»Wenn wir bis heut Abend keine Spur haben, geben wir ein Foto an die Zeitungen.«
Thon war Vater einer neunjährigen Tochter und eines fünfjährigen Sohnes, und das Verschwinden von Kindern trieb ihn jedes Mal stärker um, als er, der gewöhnlich einen sachbezogenen, freundlich distanzierten Umgang pflegte, uns gegenüber zugeben wollte.
»Dieses Mädchen«, sagte er und rauchte nervös, ohne die Asche zu bemerken, die von der Zigarillospitze auf den Schreibtisch fiel. »Was hat die mit dem Jungen zu tun? Ruf mich an, wenn du mit ihr gesprochen hast, Tabor!«
»Das hab ich schon vergessen«, hörte ich das Mädchen mit den pinkfarbenen Ohrschützern aus Wolle sagen. Ich war ihr hinterhergegangen, nachdem Frau Schenk den letzten Schüler mit dem Heben ihres Schirms verabschiedet hatte und ins Schulhaus zurückgekehrt war. Sara wurde von einer Freundin begleitet, die ununterbrochen auf sie einredete. Am Falkenweg verabschiedeten sich die beiden, die Freundin sah Sara noch eine Weile hinterher.
»Hallo!«, rief
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