Süden und das verkehrte Kind
ähnlich.
»Antworte bitte!«, sagte Hegel. Seine Frau hatte ihm, wie auch Sonja und mir, Kaffee eingeschenkt, aber er hatte keinen Schluck getrunken, während sie ihre Tasse mit wenigen Schlucken geleert hatte.
»Als Fabian zur Welt kam, war sie sehr glücklich«, sagte Waltraud Hegel.
»Aber wie lange!« Hegel machte eine abweisende Geste.
»Der Mann hat sie nie unterstützt. Hat sie allein gelassen. Ich hab ihn zur Rede gestellt. Wissen Sie, was er zu mir gesagt hat? ›Verzieh dich!‹ Hören Sie? ›Verzieh dich!‹ Sagt er mir ins Gesicht. Früher haben schon mal Schüler derartige Bemerkungen gemacht, die hab ich zurechtgewiesen. So was haben sich die nie wieder getraut.«
»Wie haben Sie die Schüler zurechtgewiesen?«, sagte ich.
»Ohrfeige links, rechts. Erledigt, die Sache.«
»Das hättest du jetzt besser für dich behalten«, sagte Waltraud Hegel.
»Ich verrate Ihnen mal was«, sagte Hegel, ohne auf den Einwand seiner Frau einzugehen. »Wenn ein Schüler mich angelogen hat, hab ich mich mit ihm ins Lehrerzimmer gesetzt, nachmittags, nach dem Unterricht, wenn wir allein waren, und dann hab ich ihn bearbeitet.« Seine Frau wollte etwas sagen, entschied dann aber, sich Kaffee nachzugießen. Sonja hatte wie ich den Kopf geschüttelt, als die alte Dame die Kanne gehoben und uns einen Blick zugeworfen hatte.
»Das waren die berühmten Hegel-Verhöre am Theresiengymnasium. Davon sprechen die Kollegen heute noch. Wen ich verhört habe, der hat gestanden. Keine lauten Töne. Ich hier, der Schüler mir gegenüber, Tisch dazwischen. Nach spätestens zwei Stunden brach jeder zusammen, auch die abgebrühtesten Typen. Sie verstricken sich immer mehr in Lügen, und wenn Sie einmal ihre Lügentechnik durchschaut haben, ist das Verhör praktisch schon zu Ende. Sie erfahren alles, was Sie wollen. Jeder, der zu mir zum Verhör musste, wusste, dass er keine Chance hatte, aber sie versuchten es trotzdem, es gab immer einen, der glaubte, er wär oberschlau und ganz gerissen. Keiner hat es geschafft. Nicht ein Einziger in achtundzwanzig Jahren.«
»Haben Sie Ihre Tochter auch verhört?«, sagte ich.
»Medy?« Für einen kurzen Moment geriet er aus dem Konzept. Er griff nach der Kaffeetasse, hielt den Blick gesenkt und lehnte sich zurück. »Das kam vor. Früher. Während ihrer Schulzeit. Sie hatte schwierige Phasen, hab ich Recht, Traudl? Sie war nicht immer einfach.«
»Später haben Sie sie nicht mehr verhört«, sagte ich.
»Selbstverständlich nicht! Ich verhör doch nicht meine erwachsene Tochter! Selbstverständlich nicht! Worauf wollen Sie hinaus?«
»Haben Sie nicht mit ihr gesprochen, als sie Torsten Kolb heiratete, einen Mann, der Ihnen nicht gefiel?«
»Wir haben beide mit Medy gesprochen«, sagte Waltraud Hegel, die kurz davor war zu weinen. »Sie war nicht davon abzubringen. Es war ihre Entscheidung, und wir akzeptierten sie. Was auch sonst?« Sie blickte stumm in die leere Tasse.
»Und als Ihre Tochter schwanger wurde?«, sagte Sonja.
»Hat sie Ihnen dann gesagt, ihr Mann möchte, dass sie das Kind abtreiben lässt?«
»Ich weiß nicht mehr«, sagte Waltraud Hegel.
»Sie hat es angedeutet«, sagte ihr Mann.
»Wie hat sie es angedeutet?«, sagte ich. Hegel verstummte.
»Und bei Nastassja hat sie ähnliche Andeutungen gemacht?«, fragte Sonja.
Das Ehepaar schwieg.
Ich sagte: »Seit wann trinkt Ihre Tochter und nimmt Tabletten?«
»Seit sie verheiratet ist!«, sagte Hegel mit bellender Stimme. »Der Kerl hat sie von Anfang an erniedrigt. Missachtet. Misshandelt!«
»Bitte, Friedbert!«, sagte seine Frau.
»Was meinen Sie mit misshandelt?«, fragte Sonja.
Hegel zeigte mit dem Finger auf sie. »Was glauben Sie? Was heißt in Ihren Augen misshandelt? Was heißt das, Frau Feyerabend?«
»Bitte, Friedbert«, sagte seine Frau noch einmal, diesmal etwas leiser, weniger eindringlich als zuvor.
»Meinen Sie sexuell misshandelt?«, fragte Sonja.
»Der Mann ist schuld, dass unsere Enkelin verschwunden ist!« Hegel warf seiner Frau einen harten Blick zu, und als er bemerkte, wie sie ihre Tränen unterdrückte, beugte er sich vor und klopfte ihr beruhigend auf die Hand.
»Ich glaub auch, dass er sie entführt hat, Herr Kommissar«, sagte sie.
»Was für ein Motiv könnte er haben?«, sagte ich.
»Bestrafung«, sagte Hegel.
Sonja, die einen Schreibblock auf den Knien liegen hatte, machte sich Notizen. Auch ich schrieb das eine oder andere Stichwort in meinen kleinen Spiralblock. Aus unseren
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