Süden und das verkehrte Kind
dieser Zeit haben Sie den silbergrauen Audi oder das Mädchen mit der roten Jeansjacke nicht mehr gesehen.«
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut sicher.«
Bevor ich in die Josephinenstraße zu Nastassjas Großeltern, ihrem Bruder und Sonja Feyerabend fuhr, sah ich noch einmal nach Martin. Als Erstes fiel mir auf, dass die Zigaretten vom Boden verschwunden waren, Martin lag nicht mehr im Bett, und ich hörte Geschirrklappern aus der Küche.
Nur mit einer grünen, fleckigen Trainingshose bekleidet, spülte er Tassen und Teller ab, die mir vorhin nicht aufgefallen waren, und in seinem Mund steckte eine brennende Salem ohne. Ich sagte nichts zu ihm, er wandte sich nicht nach mir um, und ich setzte mich an den runden Tisch am Fenster. Nachdem er sich die Hände abgetrocknet und die Zigarette in einem frisch gespülten Aschenbecher ausgedrückt hatte, setzte Martin sich mir gegenüber hin. Seine blasse Haut spannte über den hervorstehenden Rippen, er schien noch schmaler geworden zu sein, seine Wangen waren eingefallen, seine wenigen Haare formten sich zu einem armseligen Nest, seine knochigen Finger zitterten. Ich wollte ihn nicht fragen, warum er sich nicht ein Hemd und Socken anzog. Ich wollte ihn nichts fragen. Wenn er nichts sagte, würde ich wieder gehen.
Er schaute mich an. Und in seinem Blick lag das ganze verfluchte Scheitern eines Mannes, der mein bester und ältester Freund war. Wir kannten uns, seit wir fähig waren zu schauen, zu sprechen und zu kämpfen, wir hatten uns gegenseitig aufgeklärt und am Schwanz gezogen, um zu testen, ob er hart wurde. Da waren wir fünf Jahre alt gewesen, und das Glück existierte von dem Moment an, wenn wir uns morgens am Schuppen mit den Hühnern und Schweinen trafen. Jeder Tag verkündete am Ende eine Zukunft, und wir waren uns unserer Unsterblichkeit bewusst. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte mir Martin Heuer als Freund gereicht, andere Menschen interessierten mich nicht, abgesehen von den Mädchen, für die wir beide vorübergehend unsere Freundschaft pausieren ließen, um als einsame Helden zu triumphieren. Für Martin hatte ich gelogen, und er für mich, unsere Alibis waren ausgereift, und wenn wir voll wütender Trauer von einem fehlgeschlagenen Beutezug in unser Stallversteck zurückkehrten, trösteten wir uns mit der Vorstellung, dass Mädchen, die ohne uns zurechtkommen wollten, als Nonnen oder Frau Ginger enden würden. Frau Ginger lebte allein in einem alten Haus am Taginger See, sie hatte einen Schnurrbart und behaarte Beine, und wenn man das verwilderte Grundstück betrat, auf dem ihr vermodertes Haus stand, krächzte sie aus dem offenen Fenster Worte, die wir nicht verstanden, und immer trug sie eine graue Bluse, bis oben zugeknöpft und ohne die geringsten Brüste darunter. Sie war aber ein weibliches Wesen, und Mädchen, die uns verschmähten, würden hundertprozentig als Frau Ginger enden oder, wenn sie sehr viel Glück hatten, als Nonnen wie die, die den Kindergarten leiteten.
Er schaute mich an, über den Tisch hinweg wie über ein ausgetrocknetes Meer, und ich wollte ihn fragen, ob er sich an Frau Ginger erinnerte, aber er schaute mich immer weiter an, und in diesem Blick verreckte unsere Kindheit wie ein angeschossenes Reh im Wald über Taging, und ich wollte ihn fragen, ob er Hunger und Lust habe, mit mir zum Essen zu gehen, und ich wollte ihn fragen, wie es ihm gehe, und er hörte nicht auf, mich anzuschauen, und ich wollte das Meer überqueren und ihn in die Arme nehmen und vielleicht ein wenig wärmen, und dann hörte ich seinen Magen knurren, einem Hund gleich, der eine Höhle bewachte, die man nicht betreten durfte wie das Haus von Frau Ginger, und ich stand auf, drehte Martin den Rücken zu und schrie gegen die Wand, so laut und lange ich konnte.
Ich schrie aus vollem Hals, die Hände zu Fäusten geballt, mit weit geöffnetem Mund. Und als ich innehielt und mich umwandte, schaute Martin mich noch immer an , unbeweglich, mit demselben Blick wie zuvor, als habe er mich nicht gehört, als nehme er mich nicht einmal wahr. In dieser Sekunde dachte ich, er wäre tot.
»Martin«, sagte ich mit einer Stimme, die aus den Resten meines Schreis bestand.
Ohne Regung im Gesicht sagte er: »Du musst los. Du musst das Mädchen finden.«
Vor dem Haus lehnte ich mich an die Wand, verschränkte die Arme, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Auf dem Nachbargrundstück begann eine Säge zu kreischen. Es hörte sich an wie das
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