Süden und das verkehrte Kind
lächerliche Echo meines Schreis.
»Wo ist der Junge?«, fragte ich.
»Schließt sich im Zimmer ein. Bringen Sie ihn dazu aufzumachen!«
Seit ich die Wohnung der Familie Kolb betreten hatte, bestimmte der achtundsiebzigjährige Friedbert Hegel den Ton des Gesprächs. Missmutig hatte er Sonja und mich beobachtet, als wir uns zur Begrüßung auf beide Wangen küssten und uns länger ansahen, als er es vermutlich für dienstlich angemessen fand. Seine Frau, Waltraud Hegel, weißhaarig, braunes, teures Kostüm, goldene Ringe an den Fingern, hielt sich im Hintergrund, gerade so weit von uns entfernt, dass sie noch jedes Wort verstehen konnte. Es war, als behielte der ehemalige Gymnasiallehrer Sonja und mich im Auge und Waltraud Hegel wiederum ihren Mann.
»Wie geht es meiner Tochter? Ist sie wach? Kann man zu ihr?« Hegel sprach ausschließlich in diesem Duktus, fordernd, manchmal auf unterschwellige Art anklagend, und ich war mir nicht sicher, ob ihm bewusst war, wie er sich mir und Sonja gegenüber benahm. Vermutlich folgte er einer Gewohnheit, und es wäre sinnlos gewesen, sich dagegen zu verwahren. Friedbert Hegel trug einen dunklen, gut geschnittenen Anzug, eine dunkelrote Krawatte und glänzende schwarze Lederschuhe. Das Ehepaar wirkte, als habe es sich für einen Theaterbesuch herausgeputzt.
»Das Krankenhaus meldet sich, wenn es etwas Neues von Ihrer Tochter gibt«, sagte ich.
»Es wäre doch besser, du würdest hinfahren«, sagte Hegel mit einem kurzen Blick auf seine Frau.
»Erst wenn wir mit Fabian gesprochen haben«, sagte sie.
»Gehen Sie bitte ins Wohnzimmer«, sagte ich vor der verschlossenen Tür von Fabians Zimmer.
»Er macht einfach nicht auf«, sagte Hegel. »Seine Schwester ist spurlos verschwunden, und er spielt den Beleidigten. Sie müssen die Tür aufbrechen, anders hat das keinen Zweck. Der Junge darf sich so nicht verhalten.«
»Warten Sie im Wohnzimmer«, sagte ich. »Fabian?«, sagte ich dann, nachdem Sonja die Wohnzimmertür hinter sich zugezogen hatte. »Ich bin Tabor Süden, der Polizist. Ich will dir etwas sagen. Wir haben einen Zeugen gefunden, der deine Schwester gestern gesehen hat, und zwar zusammen mit deinem Vater. Ist das möglich?
Du musst mir helfen. Bei solchen Fällen tauchen immer Trittbrettfahrer auf, die Zeug erzählen, man weiß nie genau, mit wem man es zu tun hat. Ich mache mir große Sorgen um deine Schwester. Können wir uns unter vier Augen unterhalten? Ohne deine Großeltern und meine Kollegin. Was du mir sagst, ist vertraulich. Du bist ein wichtiger Zeuge, auch wenn du wenig gesehen hast. Außerdem musst du zu deiner Mutter ins Krankenhaus. Mir wäre es lieber, du würdest hingehen und nicht deine Großeltern. Schaffst du das? Ich kann dich begleiten, wenn du möchtest.«
Ich hörte, wie Fabian den Schlüssel im Türschloss drehte. Er zog die Tür einen Spaltbreit auf. Sein Gesicht war ein fahler Planet aus Müdigkeit.
»Hallo«, sagte ich.
Der Junge spähte an mir vorbei in den Flur.
»Sie sind im Wohnzimmer«, sagte ich leise. »Meine Kollegin passt auf deine Großeltern auf. Lass mich schnell rein, dann kannst du wieder absperren.«
Nach einem Moment machte er einen Schritt zur Seite, ich betrat das Zimmer, und er drehte wieder den Schlüssel herum. Dann ließ er sich aufs Bett fallen, das Gesicht im Kissen. Die Luft war abgestanden, und es roch nach Schweiß.
»Stört es dich, wenn ich das Fenster aufmache?«, sagte ich.
Er reagierte nicht, und ich ging hin und öffnete es. Die Luft war kühl. Abendlicht fiel ins Zimmer. Ich stellte mich an die Tür, schräg gegenüber dem Bett.
»Der Zeuge, von dem ich dir erzählt habe, klang überzeugend«, sagte ich. »Ein überzeugender Zeuge also.«
Fabian drehte den Kopf zur Wand, seine Haare waren ungewaschen und strähnig, und seine nackten Füße sahen schmutzig aus.
»Wir haben deinen Vater vorübergehend festgenommen«, sagte ich. »Ich weiß, dass er mir etwas verschweigt, aber er verbringt lieber das Wochenende in einer Zelle, als dass er den Mund aufmacht. Erkläre mir, was das bedeutet. Du kennst ihn besser als ich.«
Fabian murmelte etwas, das ich nicht verstand.
»Der Typ ist mir egal«, sagte er, nachdem ich nachgefragt hatte.
»Er lügt«, sagte ich.
Fabian hob den Kopf, sah zu mir her und ließ den Kopf, das Gesicht jetzt mir zugewandt, wieder sinken.
»Warum lügt er?«, sagte ich. »Das ist doch riskant für ihn.«
Dann schwiegen sie eine Weile.
»Sind Sie schon lange bei der
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