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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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unerklärliche Verschwinden eines Kindes, das auch nach mehreren Stunden nicht nach Hause zurückkehrte, bedeutete für uns den Super-GAU, und wir erlebten ihn ungefähr fünfmal im Jahr. Wir hatten also Erfahrung, doch diese Erfahrung erhöhte weder unser Trostvermögen noch erleichterte sie uns das Durchschauen der Lügen, die uns die Angehörigen auftischten, bei jeder Vermissung von neuem, ausnahmslos, ganz gleich, wie schrecklich die Umstände sein mochten. Das Einzige, was mich meine zwölfjährige Erfahrung auf der Vermisstenstelle wirklich gelehrt hatte, war: Hinter den Tränen, dem Schrecken und dem Flehen in einem Zimmer, das eine einzige leere Stelle zu sein schien, gab es eine verschlossene Tür, die zu öffnen die Angehörigen ebenso fürchteten wie den Tod des Verschwundenen oder dessen unerwartete Rückkehr. Denn sie wussten, sie waren Teil seiner Geschichte, und die Fragen, mit denen ich sie konfrontierte, führten zu jener Tür, hinter der sie seit jeher ihre Lügen, ihre Schuld, ihre Feigheit und die Bastarde ihrer Gedanken verbargen. Und sie begriffen, dass in diesem Zimmer zwar ein Mensch fehlte, dieser aber seinen Schatten zurückgelassen hatte, der einen Schlüssel besaß, den einzigen, der in das unheimliche Schloß passte.
    Matrimonia Kolb sah ich die Panik vom ersten Augenblick an, sosehr sie auch schluchzte und sich mit Alkohol zu betäuben versuchte.
    »Gründe des Verschwindens«, sagte Martin Heuer, der die Unterlagen und Formulare vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Ich stand in der Nähe des großen Fensters, dessen grüne Läden geschlossen waren. Es war Freitag, der fünfte April, eine halbe Stunde vor Mitternacht.
    »Bitte hören Sie zu!«, sagte Martin. »Die Anzeige muss vollständig sein. Wir wissen jetzt, was Ihre Tochter angehabt hat, aber wir brauchen noch mehr Informationen. Drogen und Alkohol können wir ausschließen.« Demonstrativ strich er die Worte auf dem Blatt durch. Matrimonia, die sich Medy nannte, war unfähig, etwas zu erwidern. Vornübergebeugt saß sie auf der Couch, die Hände vor dem tränennassen Gesicht, zwei zerknüllte Papiertaschentücher in den Fäusten. Sie trug eine schwarze weite Stoffhose und einen dunklen Wollpullover, der unförmig wirkte. Überhaupt schien ihr das Kaschieren ihrer eher fülligen Figur nicht recht zu gelingen, die Kleidung ließ sie übergewichtiger erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Sie hatte ein ovales Gesicht mit schmalen Lippen und einer leicht schiefen Nase, und ihre braunen gewellten Haare, die ihr auf die Schultern fielen, verliehen ihr etwas Mädchenhaftes, ebenso wie ihr Blick, der kindlich und verspielt sein konnte, wenn sie mit ihrem Sohn sprach.
    Fabian Kolb hockte im Schneidersitz auf einem ausladenden Korbstuhl mit hoher geschwungener Lehne, seine Hände unter bunten Kissen vergraben, und sagte kein Wort. Ab und zu schaute ich zu ihm hinüber, dann zuckte er zusammen, weil ich ihn erwischt hatte, wie er mich auf die Entfernung beobachtete, mit zur Seite geneigtem Kopf, aus den Augenschlitzen heraus. Er hatte die Angewohnheit, die Lider so tief zu senken, bis seine Pupillen fast nicht mehr zu erkennen waren.
    »Frau Kolb«, sagte Martin.
    Sie presste die Fäuste gegen die Wangen.
    »Abenteuerlust können wir auch ausschließen«, sagte Martin. Er wartete auf eine Antwort. »Oder halten Sie es für möglich, dass Ihre Tochter ausgerissen ist, weil sie ein bestimmtes Ziel hatte?«
    »Was denn…« Medy Kolb schniefte, schnäuzte sich, tupfte sich mit dem zerfledderten Taschentuch den Mund ab.
    »Ich hab doch schon gesagt… Nastassja ist nicht ausgerissen, ihr ist… ihr ist was zugestoßen…«
    Jetzt sah sie Martin direkt an. »Sie ist sechs Jahre alt! Erst sechs Jahre! Was unterstellen Sie ihr denn?« Sie drehte den Kopf zu mir. »Sagen Sie doch auch mal was! Bitte!«
    »Sie haben sich gestritten«, sagte ich. »Ist sie weggelaufen, weil sie Angst vor Strafe hatte?«
    »Nein!«, sagte Medy laut. Dann warf sie ihrem Sohn mit gerunzelter Stirn einen Blick zu, aber Fabian tat, als bemerke er ihn nicht.
    »Ihre Tochter ist vorher noch nie weggelaufen?«, sagte Martin.
    »Das hab ich Ihnen doch schon gesagt!« Sie hatte aufgehört zu weinen, legte die zusammengeknüllten Taschentücher neben sich und wischte sich mit einer schnellen Bewegung die letzten Tränen ab. »Ich weiß nicht, wo sie ist!« Wieder klang ihre Stimme lauter als zuvor.
    »Aber Sie leugnen nicht, dass Sie Streit hatten«, sagte

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