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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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begnadigt von der Zeit, die Zukunft an ihm sparte und nach und nach alles Vergangene in Schutt verwandelte, so wie sie seinen Abbruchkörper Nacht für Nacht demolierte. Ein paarmal hatte ich versucht, mit ihm zu sprechen, mit ihm zu schweigen, mit ihm zu trinken und zu sprechen und zu schweigen, und er hatte zugehört, und am Ende hatte der Alkohol uns beide jedes Mal in einen Zustand maßloser Lächerlichkeit versetzt, für den kein Ekel ausreichte. Ich wusste, dass Martin Heuer trotzdem fähig war, an einem Fall zu arbeiten, Protokolle zu führen, die richtigen Fragen zu stellen. Er war zu routiniert, um sich gegenüber Fremden eine Blöße zu geben. Doch in meinen Augen saß er nackt und alt und desorientiert in diesem Zimmer, und wenn er Matrimonia Kolb aufforderte, sich zu konzentrieren, meinte er damit vor allem sich selbst. Denn das Nichtsprechen der Zeugin marterte ihn, lieferte ihn den Umtrieben der gläsernen Kobolde aus, von denen er manchmal am Abgrund einer Dämmerung sprach und die, so kam es ihm vor, überall in seinem Körper Splitter verteilten, ungeschriene Worte, von denen inzwischen Tausende in ihm steckten und die er nicht loswurde. Er brachte sie einfach nicht aus sich heraus, und auf unerklärliche Weise, meinte er, würden die Worte anderer ihn erleichtern, ablenken von seiner elementaren Unfähigkeit, endlich das alles auszusprechen, auszuspucken, was ihn von innen her wund rieb. Vielleicht, dachte ich mitten in der riskanten und komplexen Vernehmung von Matrimonia Kolb, hatte ich deshalb mein Schweigen perfektioniert, um unsere Freundschaft nicht zu verlieren, sein Vertrauen und meine Geduld.
    »Mein Mann hat damit nichts zu tun«, sagte Matrimonia Kolb.
    »Womit?«, sagte Martin schnell.
    »Mit meiner Tochter.«
    Sie stand da, überlegte, wandte sich noch einmal um, nahm die Papierknäuel von der Couch und behielt sie in der Hand.
    »Was werden Sie jetzt unternehmen?«, fragte sie.
    Martin legte den Stift auf seinen Block und fuhr sich über die Stirn. »Alle Inspektionen der Umgebung sind informiert«, sagte er. »Die Kollegen fahren die ganze Nacht die Gegend ab. Wenn Ihre Tochter morgen Früh nicht zurück ist, weiten wir die Fahndung aus.«
    Sie nickte, auf eine undurchschaubare Art wie zuvor.
    Möglicherweise war sie vollkommen verstört und versuchte, ihre Gefühle zu verbergen, was allerdings wenig zu ihrem anfänglichen Heulkrampf passte. Ihre Stimmungen schwankten stark. Zudem hatte ich das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Sohn noch nicht durchschaut, einerseits schienen sie sich, aus welchen Gründen auch immer, gegenseitig zu schützen, andererseits belauerten sie sich, als fürchteten sie unangenehme, nicht abgesprochene Bemerkungen oder Verhaltensweisen.
    Wenn wir nicht aufpassten, neigten wir dazu, uns im Anfangsstadium solcher Ermittlungen in Verdächtigungen, Unterstellungen und Vorurteile hineinzusteigern, weil wir aus Erfahrung misstrauisch waren und rasch genervt von vermeintlich taktischen Spielen der Zeugen und weil unsere berufsbedingte Forschheit und Selbstsicherheit einen Automatismus nach sich zogen, der eine gewisse Blindheit nicht ausschloss. Das Problem war, dass dieser Automatismus in den meisten Fällen direkt zum Ziel und zur Aufklärung führte, und zwar innerhalb kurzer Zeit. Und wenn es etwas gab, das wir uns unter keinen noch so verschwurbelten Umständen leisten konnten, dann war es Trödeln.
    »Wir machen jetzt eine Pause«, sagte Martin und erhob sich so ruckartig von seinem Stuhl, dass Matrimonia Kolb mit dem Kopf zuckte. »Wir gehen raus und Sie denken nach, was Sie uns noch zu sagen haben. Außerdem möcht ich, dass Sie nochmal versuchen, Ihren Mann zu erreichen. Er muss herkommen.«
    »Ich möchte das nicht.«
    »Rufen Sie ihn an, sagen Sie ihm, er soll sich beeilen!«
    »Wir haben zurzeit keinen Kontakt, ich will das nicht!«, sagte sie mit lauter Stimme.
    »Wir lassen ihn sonst mit einer Streife holen«, sagte Martin, schon an der Tür, die grüne Zigarettenpackung in der Hand.
    Vor dem Korbstuhl blieb ich stehen. »Du hast keine Vorstellung, wo sich deine Schwester aufhalten könnte?«
    Fabian zog die Beine noch enger an den Körper. »Hab ich doch hundertmal gesagt: Nein. Glauben Sie mir nicht?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich.
    »Ist aber wahr«, sagte er.
    »Was hast du in den zwei Stunden gemacht, in denen du allein in der Wohnung warst?«
    »Hab ich doch hundertmal gesagt: Ich hab Englisch gelernt, Vokabeln. Sie können mich ja abfragen,

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